Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters
hielt diese Haltung der SED für unakzeptabel, wie er auch beim Staatsbesuch 1989, aus Anlaß des vierzigsten Jahrestags der DDR, noch einmal deutlich machte. Hier fiel der berühmte Satz: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» (Im Original: «Es ist gefährlich, das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen.») Tatsächlich funktionierten viele der traditionellen Techniken der Machtsicherung bereits vor dem Mauerfall nicht mehr. Weder konnte der brutale Einsatz von Sicherheitskräften während der Feiern zum Jahrestag der DDR die Demonstranten von ihren Veranstaltungen abhalten, noch gelang es, Abstimmungen in gewohnter Weise zu schönen. Über Jahrzehnte hatten die Wahlergebnisse in der DDR immer eine Zustimmungsquote von bis zu 99 Prozent ergeben. Wie dreist Wahlen manipuliert wurden, konnten Oppositionsgruppen zum ersten Mal im Mai 1989 bei den DDR-Kommunalwahlen nachweisen. Obwohl viele solche Eingriffe schon immer vermutet hatten, war die Empörung groß.
Kritisch wurde es für die Führung der DDR allerdings erst in dem Moment, als die Masse der Unzufriedenen nicht mehr ausrei-sen, sondern dableiben wollte und sich mit den dezidierten politischen Gegnern des Regimes verband. Der politische Widerstand in der DDR hatte sich in den achtziger Jahren vor allem unter dem
Dach der evangelisch-lutherischen Kirche gesammelt. Im Oktober
1989 gingen die Bilder von den Friedensgebeten in der Gethsemane-Kirche in Ostberlin und der Nikolai-Kirche in Leipzig um die Welt. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits eine Massenveranstaltung geworden. Auch bei den Leipziger «Montagsdemonstrationen» versammelten sich Zehntausende. Allein in Ostberlin demonstrierten am 4. November 1989 etwa eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz für Demokratie. 21
Die SED hatte bereits im Oktober 1989 mit einem Befreiungsschlag versucht, wieder zur Herrin des Geschehens zu werden. Staats- und Parteichef Honecker war am 18. Oktober gegen seinen ausdrücklichen Willen vom Zentralkomitee von seinen Ämtern entbunden worden - ein Akt, den er als Teil einer großangelegten internationalen Verschwörung gegen die DDR seit 1987 verstand, wie er später in einem Interview betonte. 22 In dieser bitteren Einschätzung spielte wohl die Erinnerung an seinen eigenen Amtsbeginn 1971 eine wichtige Rolle, als Ulbricht in enger Absprache mit Moskau von ihm gestürzt worden war. Sein Nachfolger und «Kronprinz» Egon Krenz bot allerdings in den Augen derjenigen, die die DDR reformieren wollten, keine Alternative. Auch er setzte wie selbstverständlich auf die bisherige Struktur der DDR und vor allem den verhaßten und gefürchteten Staatsicherheitsdienst, der kosmetisch zu einem «Amt für Nationale Sicherheit» umgestaltet wurde. Wie sehr sich die DDR bereits gewandelt hatte, war daran erkennbar, daß die Opposition selbst in diesen sensiblen Bereich eingreifen konnte. Gegen die umfassende Zerstörung von Unterlagen des Staatssicherheitsdiensts, der über Jahrzehnte mit zuletzt über 91 000 Hauptamtlichen und 173 000 Inoffiziellen Mitarbeitern überwacht und manipuliert hatte, bildeten sich in vielen Städten der DDR Komitees, die schließlich die Stasi-Anlagen besetzten und die weitere Aktenvernichtung stoppen konnten. 23 Im Januar 1990 konnte die Opposition bei Verhandlungen mit der DDR-Regierung dann sogar die vollständige Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit durchsetzen. Als ein absolutes Novum in der deutschen Geschichte wurden dessen Unterlagen nicht nur sofort der professionellen Historiographie, sondern vor allem jedem interessierten Bürger geöffnet. Diese Offenheit gab es in keinem anderen ehemaligen Ostblockstaat.
Warum am 9. November 1989 für alle überraschend die Grenze in Berlin geöffnet und damit endgültig das Ende der DDR besiegelt wurde, blieb lange unklar. Zu unglaublich erschien das bedingungslose Einlenken der DDR-Führung um Krenz. Tatsächlich hatte es dies auch nicht gegeben. Die Öffnung war ein Mißverständnis, das nicht wieder rückgängig gemacht werden konnte. Alles hatte mit einem Beschluß des DDR-Ministerrats über eine zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und die sogenannte Ständige Ausreise aus der DDR begonnen. Mit ihr wollte man die Welle von Fluchten über Drittländer in geordnete Bahnen lenken. In Umlaufverfahren war die Regelung abgesegnet und kurz vor der am 9. November um 18.00 Uhr angesetzten Pressekonferenz dem designierten Sekretär für Information, Günter Schabowski, auf
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