Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters
US-Außenminister mehr denn je von der Richtigkeit der Auffassung überzeugt, das wirtschaftlich-soziale Chaos in Europa sei ein von den Sowjets geschickt genutztes Schlachtfeld des Kalten Krieges. «Der Patient stirbt, während die Ärzte beraten», hieß es drastisch in Marshalls kurz danach übertragener Rundfunkrede. 19
Auch während seiner berühmten Rede an der Harvard-Universi-tät am 5. Juni 1947, in der er offiziell das «Europäische Wiederauf-bau-Programm» (ERP) ankündigte, das später seinen Namen trug, unterstrich Marshall ausdrücklich noch einmal die Totalität der Bedrohung und die Notwendigkeit einer entsprechend umfassenden Antwort. Ein wirtschaftlich-sozialer Absturz Europas werde das politische Chaos zur Folge haben und damit den Sieg des Kommunismus. Das Angebot, Kredite und Waren bereitzustellen, ging an alle Staaten, die es annehmen wollten - «alles westlich von Asien», wie Marshall einige Tage nach der Harvard-Rede noch einmal deutlich machte. 20 Wer genau hinhörte, konnte jedoch im Rekurs auf die Truman-Doktrin vom 12. März den antikommunistischen Vorbehalt heraushören. «Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos.» 21 In den internen Schreiben wurde Klartext gesprochen. George Kennan unterstrich hier bereits im Mai 1947, man müsse die Angebote so formulieren, daß die sowjetischen Satellitenstaaten durch die gestellten Bedingungen sich entweder von vornherein selbst ausschlössen oder aber bei Annahme gezwungen seien, auch die politischen Vorstellungen zu übernehmen. 22 Tatsächlich herrschte in den westlichen Planungsgruppen die Vorstellung, die UdSSR und ihre Satelliten könnten die Hilfe gar nicht akzeptieren, ohne gleichzeitig ihre politische Kontrolle aufzuweichen. Um so überraschter war man, als die Sowjets am 27.Juni 1947 bei den ERP-Verhand-lungen in Paris mit einer 89köpfigen Delegation erschienen. Es zeigte sich allerdings, daß Molotow und seine Gruppe schnell wieder abreisten, als sie sich nicht mit ihrer Forderung durchsetzen konnten, die Kredite ausschließlich bilateral zu vergeben. 23 Den übrigen ostmitteleuropäischen Interessenten am ERP wurde die Teilnahme ausdrücklich untersagt. Wie ernst Stalin dies meinte, machte er gegenüber der Tschechoslowakei deutlich, die ihr Interesse an US-Krediten besonders nachdrücklich angemeldet hatte. Der erboste Stalin beorderte Außenminister Jan Masaryk persönlich nach Moskau, wo dieser seine Zusage offiziell zurückzunehmen hatte. Zwischen Ost und West folgte ein propagandistischer Schlagabtausch. Unter anderem gehörte der Marshall-Plan zu den zentralen Angriffszielen Schdanows während seiner Ansprache im September 1947.
Rückblickend wurde das Europäische Wiederaufbauprogramm mit seiner enormen propagandistischen Begleitung zur psychologisch wichtigsten Station auf dem Weg zur politischen Bindung Westeuropas - und nicht zuletzt eben Westdeutschlands - an die USA. Der ökonomische Erfolg war allerdings ebenfalls nicht zu unterschätzen, obwohl in der Realität vorangegangene Wiederaufbauprogramme wesentlich umfangreicher gewesen waren. Entgegen der eher negativen Wahrnehmung der Zeitgenossen setzte der wirtschaftliche Aufschwung bereits 1947 ein. Als man später nachrechnete, wurde deutlich, daß sogar ein Großteil der ab 1948 für Europa bereitgestellten rund 17 Milliarden Dollar gar nicht mehr abgerufen worden war, weil das Geld nicht mehr benötigt wurde. 24 Immerhin veranlaßte der durchschlagende psychologische Erfolg des ERP die USA noch Ende 1947, ein ähnliches Programm für Tschiang Kai-schek zusammenzustellen, das sich allein in diesem Jahr auf rund 338 Millionen Dollar belief. 25
Im Rückblick fügte sich auch Stalins Ablehnung des Marshall-
Plans 1947 in eine antiwestliche Tradition. Schon gegenüber der Einführung einer neuen Weltwirtschaftsordnung 1944, des sogenannten «Bretton-Woods-Systems» mit einem Internationalen Währungsfonds (IWF/IMF), einer Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD) sowie der Festlegung, daß der US-Dollar als globale Leitwährung zu betrachten sei, war er zutiefst mißtrauisch gewesen. Tatsächlich hatte die UdSSR 1945 die Abmachung nicht unterschrieben, weil sie die Zustimmung als ein Zeichen der Unterwerfung deutete. Im selben Jahr sorgte Stalin - wie später im Fäll des ERP - dafür, daß auch die meisten von der UdSSR abhängigen Staaten nicht am
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