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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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silbrig wie im Mondschein. Aber die Sicht war gut: Man konnte das Gebüsch bis zum letzten Zweig erkennen, das Gras, jeden Erdbuckel.
    Der Mann lag im Gras, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte zum weiten Sternenhimmel empor, wie ein träger Urlauber am Strand. Er schien zu dösen: keine Bewegung, kein Geräusch. So lag er ungefähr fünfzehn Minuten. Kolossow wurde allmählich der Rücken steif.
    Plötzlich erhob sich der Mann mit geschmeidigen Bewegungen. Er lauschte. Reckte sich raubtierhaft und voller Wohlbehagen wie nach einem erholsamen Nickerchen. Dann warf er mit einem Ruck irgendetwas ab – eine Jacke oder einen Pullover – und begann sich im taufeuchten Gras zu wälzen.
    Er stand wieder auf. Kolossow spähte durchs Okular: Endlich konnte er den Burschen deutlich sehen. Eine halb nackte, mächtige Gestalt, übergossen vom silbrig-leblosen Licht der künstlichen Nacht. Der Mann schaute geradeaus. Sein Gesicht war Kolossow vertraut. . . sie waren sich wirklich sehr ähnlich, die Zwillingsbrüder, aber in diesem Gesicht war etwas Besonderes. Man merkte es nicht gleich auf den ersten Blick. Vielleicht war es die übergroße Beweglichkeit seiner Züge? Es schien, als reagiere der Mann mit dem ganzen Gesicht, jedem noch so winzigen Muskel auf jeden Laut: auf den Schrei eines Nachtvogels, auf den Froschchor, auf das Geräusch eines einsamen Autos, das irgendwo weit weg auf der Chaussee vorbeifuhr. Kolossow beobachtete ihn angespannt: gleich, jetzt gleich . . . Was war es, das er auf keinen Fall versäumen wollte? Die Verwandlung eines Menschen in ein Tier? Mit Bärenfell bedeckte Schultern, Hauer und Krallen . . .
    Nichts geschah, gar nichts. Der Mann schaute zum Mond empor, holte tief Luft und ging dann langsam auf die Siedlung Mebelny zu, wobei er weich und geräuschlos im Gras auftrat.
    »Nikita, wir verlieren ihn gleich«, flüsterte es in den Kopfhörern. »Verdammt. Er ist weg. Nummer fünf, kannst du ihn sehen?«
    »Ja, er geht wie vorher am Ufer entlang. Vielleicht zu dem Bauernhof da vorn. Ja, ich glaube, da will er hin. Was ist, Nikita Michailowitsch? Sollen wir ihn provozieren wie verabredet?«
    »Habt ihr den Hund bei euch?«, fragte Kolossow heiser.
    »Ja. Im Moment sieht und wittert er ihn aber noch nicht, der Wind weht in die falsche Richtung.«
    »Lass den Hund los«, befahl Kolossow. »Wir sind gleich da. Aber nicht schießen, egal, was passiert!«
    Ohne sich noch länger zu verbergen, rannten Sidorow und er so schnell sie konnten zur Flussbiegung. Sidorow warnte ihn im Laufen: »Halten Sie sich direkt am Ufer, ganz am Rand, wo der Sand ist. Etwas weiter weg zur Seite ist es so verdammt sumpfig, dass man stecken bleibt.«
    Von weitem hörte man heiseres Hundegebell. Der Schäferhund hatte die Fährte aufgenommen. Diese Methode – einen Hund auf den Verdächtigen zu hetzen und ihn so zu provozieren – war von Kolossows Kollegen und Untergebenen ebenfalls äußerst skeptisch aufgenommen worden. Keiner konnte sich erklären, was das bringen sollte.
    Nun sahen sie den Mann wieder. Er stand unmittelbar am Wasser und lauschte nervös dem Gebell. Der aufgestachelte Schäferhund jagte wie toll aus dem Gebüsch, stürzte nach vorn und . . . Das hatte Kolossow nicht erwartet! Der Hund wollte den Übeltäter schon nach allen Regeln der Kunst am Arm packen, da erstarrte das Tier plötzlich. Wich zurück, zog den Schwanz ein und knurrte dumpf und bösartig. Der Mann krümmte sich. Seine Muskeln spannten sich an, ein gewaltiger Sprung – und der Schäferhund ergriff jaulend die Flucht. Der Mann hechtete ihm nach ins Gebüsch. Man hörte Zweige krachen, ein heiseres Knurren, dann ein lautes, verzweifeltes Winseln.
    »Nimm das auf!«, konnte Kolossow gerade noch zischen, bevor sie losstürzten. Sie kämpften sich durchs Gestrüpp. Da hockte der Mann auf allen vieren, tief über den schwarzgelben Körper des Hundes gebeugt. Der Schäferhund zappelte krampfhaft, trat mit den Beinen. Plötzlich drehte der Mann den Körper des Tieres zu sich herum und packte den Hund an den Vorderläufen. Man hörte es knirschen und knacken. Der Mann riss dem Tier den Bauch auf, fasste mit der Hand in die klaffende Wunde, dass das Blut ihm auf die Brust spritzte, fetzte einen Klumpen Innereien heraus, grub die Zähne hinein, und dann . . .
    Dann fiel sein Blick auf die Verfolger. Sein Gesicht verzerrte sich. Er schnellte in die Höhe wie von einer Feder getrieben und stieß einen furchtbaren Fluch aus. Kolossow

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