Der kalte Kuss des Todes
stammelten nur schluchzend: »Doch nicht unser Stepan! Der liebe Junge . . . der gute Junge . . .« und so weiter.
Dmitri bemühte sich übrigens selbst um ein Gespräch mit den Justizbehörden. Überhaupt hatte Kolossow den Eindruck, dass Dmitri schon längst eine ähnliche Entwicklung der Ereignisse befürchtet hatte.
Die Nachricht von Stepans Verhaftung nahm er äußerlich gelassen auf. Kolossow war zur Geschäftsstelle der Ölgesellschaft gefahren und ließ ihn dort über das interne Telefon der Wache ins Vestibül bitten. Dmitri fragte, unter welchen Umständen Stepan festgenommen worden sei. Kolossow verschwieg ihm nichts. Er antwortete auch auf die Frage, was man Stepan zur Last lege: die Morde sowie das Verschwinden der Bürgerin Lisa Ginerosowa. Dmitri erklärte sofort, sein Bruder werde von Alfred Markowitsch verteidigt. Der Name dieses Anwalts war so prominent, dass Kolossow zu dem Schluss kam, entweder müsse diese Koryphäe schon lange als Familienanwalt im Dienste des Basarow-Clans stehen, oder Dmitri habe diese Schutzmaßnahme für seinen Bruder schon lange im Voraus geplant, weil er bereits befürchtet hatte, dass früher oder später ein qualifizierter und namhafter Verteidiger gebraucht werde.
Was Stepans Krankheit betraf, schlug Dmitri Kolossow vor, die damit verbundenen Fragen möglichst bald zu besprechen; er versprach sogar, umgehend alle medizinischen Dokumente herbeizuschaffen und den Arzt hinzuzuziehen, der Stepan nach der Trichineninfektion in der Neurologie behandelt hatte.
Man gewann den Eindruck, als käme Dmitri den Ermittlern bereitwillig entgegen und wüsste eine Antwort auf jede Frage, die Kolossow und seine Kollegen interessierte. Doch Nikita hatte Katjas Hinweis auf die besonderen Beziehungen zwischen den Zwillingsbrüdern nicht vergessen. Und sehr bald konnte er sich selbst davon überzeugen, dass von dem Bruder keine Hilfe zu erwarten war, wenn es darum ging, Stepan zu überführen – was allerdings nicht verwunderlich war. Selbst bei solchen Monstern wie Tschikatilo, Golowkin oder Sliwko hatte keiner der Angehörigen freiwillig den Ermittlern geholfen. Auch diese Scheusale waren von ihren Verwandten geschützt und verteidigt worden; man hatte sie nicht als Wölfe hingestellt, sondern als Schafe, die sich im Labyrinth ihrer Krankheiten, Instinkte und Leidenschaften verirrt hatten.
So wartete Kolossow zunächst einmal ab, verschob das Gespräch mit Dmitri auf einen Zeitpunkt nach dem detaillierten Studium der Krankengeschichte Stepans und der Beratung mit den Spezialisten des Serbski-Instituts, wo den »Werwolf« in Kürze ein gerichtspsychiatrisches Gutachten erwartete.
Bei der Suche nach Belastungsmaterial gegen Stepan Basarow hoffte Kolossow mehr auf den jüngeren Bruder Iwan. Er hatte nicht vergessen, mit welchem Hass sich der junge Bursche über seine älteren Brüder geäußert hatte. Aber auch dieses private Gespräch verlief nicht ganz so, wie Nikita es sich vorgestellt hatte.
Sie saßen in Kolossows Büro im Gebäude des Präsidiums an der Nikitski-Straße. An diesem Tag fühlte der Chef der Mordkommission sich besonders schlecht. Die angebrochene Rippe machte ihm zu schaffen; auf jede Bewegung antwortete sie mit einem ziehenden Schmerz in der Seite. Auch Iwan blickte finster wie eine Gewitterwolke. Seit ihrer ersten Begegnung in der Todesnacht Wladimir Basarows schien er noch magerer, sein Gesicht noch eingefallener geworden zu sein. Ein blasses, schmächtiges Jüngelchen. Sein Blick war mürrisch zu Boden gerichtet. Auf den höflichen Vorschlag, »ein bisschen über seinen Bruder zu erzählen«, reagierte er mit der schroffen, zwischen den Zähnen hervorgestoßenen Antwort: »Ich weiß nichts! Fragen Sie Dmitri!«
»Weißt du wirklich nichts, oder willst du mit mir nicht über Stepan reden?«
»Ich will nicht.«
»Warum?«
»Es ist mir unangenehm, darüber mit einem Mann zu reden, dem ich es zu verdanken habe, dass die ganze Welt mich als kleinen Bruder eines irren Killers betrachtet.«
»Meinst du denn, wir täuschen uns in Stepan?«
»Dmitri hat gesagt, dass Sie ihm irgendwelche bestialischen Morde vorwerfen und auch, dass Lisa verschwunden ist.« Iwan stockte. »Das stimmt alles gar nicht.«
Kolossow schwieg eine Weile.
»Dmitri hat dir gesagt, wie du dich verhalten sollst, nicht wahr?«, fragte er dann leise.
»Ich hab meinen eigenen Kopf. Ich brauch keinen, der mich belehrt und mir Ratschläge gibt, ist das klar? Das mit Stepan ist alles Lüge,
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