Der kalte Kuss des Todes
verzog sich irgendwohin in den Norden, Richtung Petersburg. Über der Hauptstadt und der Umgebung strahlte ein frisch gewaschener, geradezu leichtsinnig blauer Himmel. Auf den Straßen staute sich der Verkehr – die Moskauer strebten einträchtig aufs Land zu ihren Datschen.
Auch in das Survival-Camp in Otradnoje kehrte plötzlich wieder Leben zurück. Am Freitagmorgen traf dort in zwei schwarzen Jeeps eine Gruppe von zehn sportlich aussehenden jungen Burschen mit Sporttaschen und Schlafsäcken ein. Allem Anschein nach war es frischer Nachschub für die Trainingskurse. Zur Erkundung der Lage wurde Sidorow ins Survival-Camp geschickt; auf den jungen Leutnant der Miliz verließ Kolossow sich in Rasdolsk mehr als auf den Chef Spizyn. Sidorow erledigte seine Aufgabe ohne Fehl und Tadel; er mimte den leicht beschränkten Dorfpolizisten, der das neue »Kontingent« in seinem Abschnitt kennen lernen will und gleichzeitig versucht, hintenherum sein eigenes Süppchen zu kochen. Er unterhielt sich mit einem der Trainer, der nach dem »Vedischen System der Selbstregulation« arbeitete. Einfältig und plump fragte Sidorow, wann er den Besitzer des Sportclubs, Stepan Basarow, sehen könne. »Ich würde gern mit eurem Boss darüber reden, ob ich meinen Bruder bei euch unterbringen kann. Der Junge ist gerade aus der Armee entlassen, hat bei den Fallschirmspringern gedient, ein kräftiger, gesunder Bursche. Jetzt sucht er eine gut bezahlte Arbeit – na, du weißt schon, was ich meine. Und da will er sich noch den nötigen Schliff holen. All das Zeug lernen, das ihr hier durchnehmt. Wu-Shu, Karate . . .«
Der vedische Trainer war geschmeidig wie eine Katze, ein athletischer Typ mit Trillerpfeife. Katja hätte ihn als den Mann wiedererkannt, der sich bei ihrem ersten Besuch des Camps um sie »gekümmert« hatte, aber kaum als den Schläger identifiziert, der vor einigen Tagen auf den erschlafften Körper von Madame Leilas Sohn eingedroschen und mit dem Schuhabsatz die Brille des Behinderten zertreten hatte. Er lächelte Inspektor Sidorow mit seinen weißen Zähnen an und erwiderte, kein Problem, Leutnant, morgen kommt der Lehrer nach Otradnoje. »Wenn Sie wollen, bringen Sie Ihren Protege dann her«, schloss der Trainer.
Der Mann, auf den sie seit so vielen Tagen warteten, würde also am folgenden Tag da sein! Wenn sie Glück hatten, würden bald alle Fragen auf einmal beantwortet sein. Oder fast alle.
Gegen Mittag trafen die Experten aus dem Präsidium vollzählig in Rasdolsk ein. Sie brachten ihre sorgfältig verpackte Spezialtechnik mit. Wenn die Kollegen gewusst hätten, welche Mühe es Kolossow gekostet hatte, bei seinen Vorgesetzten fast das gesamte Arsenal der Geräte für eine nächtliche Observierung loszueisen, über das die technische Abteilung verfügte! »Wofür brauchst du denn so viele Kameras, Nikita Michailowitsch?«, hatte sein Vorgesetzter Gladkow wissen wollen. »Du kannst dir doch nicht alles auf einmal unter den Nagel reißen. Meine Drogenabteilung ist für heute praktisch lahm gelegt!«
Kolossow beruhigte ihn: Ich brauche die Sachen höchstens für ein, zwei Tage. Wenn das, worauf er wartete, nicht in den nächsten Tagen geschah, musste die Operation sowieso abgebrochen werden.
Die große Zahl von Kameras und Nachtsichtgeräten benötigte er, um jeden Schritt des potenziellen Täters zu dokumentieren. Die Richter, der Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft und seine eigenen Kollegen sollten alles mit eigenen Augen sehen können. Doch hätte man Kolossow gefragt, was er unter dem Wort »alles« verstehe, hätte er keine klare Auskunft geben können und sich herausreden müssen.
Aber die Geräte wurden auch deshalb benötigt, weil es praktisch unmöglich war, einen solchen Verdächtigen mit Autos oder zu Fuß zu verfolgen und im Auge zu behalten. Bei seinem Besuch im Camp hatte Sidorow bemerkt, dass man Basarows Jungs nicht so leicht hinters Licht führen konnte.
»Die sind mit allen Wassern gewaschen, Nikita Michailowitsch«, berichtete er. »Wenn wir diese Typen beschatten wollen, müssen wir aufpassen, dass sie uns nicht eher entdecken als wir sie.«
Auf den Einbruch der Nacht wartete Kolossow so ungeduldig, als stünde ihm ein amouröses Abenteuer mit einem Fotomodell bevor. Von dem Funksignal, das ihm einer der Beobachtungsposten senden würde, hing es ab, wohin er fahren musste. Was dann folgte, mochte er sich noch gar nicht ausmalen. Als zweiten Mann nahm er nur Sidorow mit. Der Inspektor
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