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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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hat sich grundlegend geändert.«
    »Und was liegt dieser Auffassung heute zu Grunde?«
    »Der unterbewusste Traum vom Supermann, vom Alpha-Tier.«
    »Meinst du das ernst?«
    »Das ist meine persönliche Meinung.« Sergej lächelte. »Es ist ein rein phallischer, hypertroph-erotischer Begriff unserer Zeit: der Werwolf, die Bestie, der Tiermensch. Ein Sexsymbol, so wie Dracula oder Batman. Denk nur daran, wie viele Filme es über Werwölfe gibt und wie dieses Thema heutzutage dargestellt wird. Unterbewusst suchen wir in der Idee vom Tiermenschen das, was das Leben uns genommen hat: Freiheit, die Rückkehr zur unberührten Natur. Wir haben verworrene Träume von der Liebe, genauer, von Sexualität ohne Einschränkungen, ohne Rücksicht auf Moral, Sitte und Anstandsregeln. Wir sehnen uns insgeheim nach diesen entfesselten Instinkten, weil wir eingeengt sind, müde und voller Komplexe. Im Grunde sind diese Werwolf-Fantasien, ob nun in Büchern oder in Filmen, eine Flucht vor der Realität.«
    »Aber es gab doch auch echte Fälle von Lykanthropie«, meinte Katja.
    »Ja, die gab es, aber sie waren sehr selten. Lykanthropie ist ja nicht nur ein mythologischer, sondern auch ein medizinischer Begriff. Die Werwolf-Psychose ist nur eine von vielen verschiedenen Psychosen und Manien. Einer hält sich für Napoleon, ein anderer für ein zottiges Ungeheuer mit Klauen und Fangzähnen.« Sergej schenkte sich noch Kaffee ein. »Irgendwo habe ich gelesen, dass in den USA ein Farmer den Verstand darüber verloren hat. Er war Offizier gewesen, hatte in Korea gekämpft und sich nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst eine Ranch gekauft. Und dann rastete er plötzlich völlig aus: Er rannte nachts umher, heulte wie ein Tier und verspürte das unbezwingbare Verlangen, Kaninchen zu jagen und zu fressen. Aber das ist eine Psychose, eine Krankheit des Gehirns.«
    »Aber diese Novelle von Mérimée, › Lokis ‹ . . .« Katja biss sich auf die Lippe. »Das Thema ist das gleiche – ein Geschöpf, halb Mensch, halb Bär. Ist das auch nur eine Allegorie? Eine Geschichte vom Supermann?«
    Sergej schwieg eine Zeit lang. »Der Bär, der die Gräfin raubt«, sagte er dann und lächelte. »Die alte Oma der Basarows schwafelt ständig von dieser › Bärenhochzeit ‹ . Ich hab’s bei der Totenfeier gehört. . . Übrigens wurde in diesem Stummfilm die Legende genau so interpretiert, wie ich es dir eben erklärt habe. Aber woher rührt dein plötzliches Interesse an Werwölfen? Hat diese Bettlerin dich so sehr beeindruckt? Erscheint dir unser Dmitri jetzt im Traum als Werwolf?«
    »Du hast Recht«, sagte Katja ruhig. »Diese verrückte Bettlerin hat sich vor Dmitri gefürchtet, und er hat es gemerkt. Und da bin ich auf die Idee gekommen . . .«, Katja beugte sich ein wenig vor, »sie könnte ihn vielleicht verwechselt haben.«
    Sergej seufzte und blickte in seine Kaffeetasse.
    »Entschuldige, Katja, trotzdem weiß ich bis jetzt nicht recht, wovon wir eigentlich reden. Erklär mir doch bitte genauer, was du meinst.«
    »Warte einen Moment, ich will dir etwas vorlesen.« Katja eilte ins Wohnzimmer und kehrte mit einem Buch in der Hand zurück. »Erinnerst du dich an diese Weihefeier, die wir im Camp miterlebt haben? Daran habe ich die ganze Zeit gedacht. Sie kam mir wie ein Ritual vor, und ich habe nach etwas Ähnlichem gesucht. Ich wusste, irgendwann hatte ich von so etwas schon mal gehört oder gelesen. Und schließlich fiel es mir wieder ein. Bei Maximow! Hör mal, was er über den Aberglauben der Slawen schreibt: › Einem Volksglauben zufolge braucht man nur im Wald einen Baumstumpf mit glatter Oberfläche zu finden, unter Beschwörungen Messer hineinzustecken und dann einen Salto darüber zu schlagen, und man verwandelt sich in einen Tiermenschen. ‹ Man wird ein Werwolf, Sergej! Aber nicht unbedingt ein Wolf. Es könnte zum Beispiel auch ein Bär sein. . .«
    »Du wolltest doch einen Rat von mir, nicht wahr? Dann gebe ich ihn dir jetzt, Katja: Vergiss diesen ganzen Unfug, ein für alle Mal.«
    »Hier geht es nicht um Märchen über Werwölfe. Du verstehst mich nicht, Sergej«, sagte Katja bekümmert. »So richtig begreife ich es selbst noch nicht, aber. . . irgendetwas an diesem Fall ist so merkwürdig, dass es Kolossow anscheinend keine Ruhe lässt. Ich glaube, wir denken alle viel zu realistisch. Vielleicht ist gerade das unser Problem. Bei Zen gibt es eine Parabel über eine Tasse Tee. Ein japanischer Zen-Lehrer hatte einmal einen

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