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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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kenne mich da nicht aus. Ich habe einen Onkel, der lebt auf Kamtschatka. Ein reicher Jagdgrund ist das, hat er erzählt. Und er hat immer gesagt – ich weiß es noch genau – , dass nur der Bar seinen Opfern das Rückgrat bricht, weil er Tatzen hat wie Vorschlaghämmer. Sehen Sie dort, Nikita Michailowitsch, da ist eine Senke, da können wir uns verstecken. Wenn diese Biester aus den Büschen springen, kann man von da bequem auf sie feuern.«
    Sie stiegen zum Fluss hinunter. Sidorow trat das Gras platt und machte sich auf diese Weise ein Lager. Kolossow folgte seinem Beispiel. Im nassen Gras zu liegen war verdammt ungemütlich. Die Zähne fingen von der Kälte ganz von selbst zu klappern an, und die Gedanken drehten sich monoton im Kreis. Noch eine halbe Stunde hier im Hinterhalt, und Tuberkulose samt Ischias waren garantiert. Zum ersten Mal im Leben dachte Kolossow darüber nach, wie schwächlich und hilflos der heutige Stadtmensch in der freien Natur war, allein auf sich gestellt und ohne die Segnungen der Zivilisation.
    Die Nacht zog sich in die Länge. Anfangs starrte Kolossow noch wachsam in die Finsternis und spitzte die Ohren, um auch ja kein verdächtiges Rascheln, kein Knacken von Zweigen oder Plätschern von Wasser zu überhören, doch nach einer guten Stunde konnte er kaum noch die Augen offen halten und kämpfte gegen den Schlaf an. Irgendwo weit entfernt keckerte eine Elster. Danach wurde es wieder still. Dann ertönte der lang gezogene Schrei eines Nachtvogels.
    »Sicher ein Wachtelkönig.« Sidorow schauderte. »Klingt wie ein Vampir auf der Jagd. Oder vielleicht ein Uhu? Als ich noch in Mebelny zur Schule ging, hat mal einer einen lebendigen Uhu. . .«
    »Moment.« Kolossow reckte den Hals und starrte angestrengt zum Fluss hinüber. »Was ist das da?«
    »Wo? Ich sehe nichts.«
    Vor den Sträuchern, die das Ufer säumten, huschte irgendetwas vorbei wie ein Schatten.
    »Das sah nur so aus, als wäre da was.« Sidorow gähnte. »Bald wird es hell. War wohl für die Katz, die Warterei. . .«
    Plötzlich knackten Zweige im Gebüsch. Das Geräusch brach jäh und unerwartet in die schläfrige Stille. Vom Flussufer versuchte offenbar jemand Großes, Schweres, sich durch das Faulbeerengestrüpp zu kämpfen. Dann wurde wieder alles still. Plötzlich tauchte eine stämmige dunkle Gestalt aus den Büschen auf, setzte mit einem einzigen mächtigen Sprung über den Haufen Bruchholz und lenkte die Schritte zu der Stelle, wo die Überreste des Schafes lagen. Kolossow konnte gerade noch sehen, dass der Ankömmling sich sehr sicher, schnell und fließend bewegte, als sei die Dunkelheit kein Hindernis für ihn.
    »Oh, du verfluchter Halunke«, flüsterte Sidorow grimmig. »Jetzt bist du fällig . . .«
    Kolossow konnte ihn nicht mehr zurückhalten. Sidorow war schon aufgesprungen und hatte die Taschenlampe angeknipst. Er leuchtete in die Richtung des Unbekannten und brüllte aus vollem Halse: »Hände hoch! Hände hoch, oder ich schieße!«
    Das Licht riss für einen Augenblick eine gekrümmte Gestalt in etwas Schwarzem aus der Finsternis. Kolossow, der wie ein Uhu vom grellen Licht der Taschenlampe geblendet war, sah nur eins: die Augen des Unbekannten – und auch das nur für den Bruchteil einer Sekunde. Etwas Unnatürliches war in diesem Blick, etwas Krankhaftes, Eigentümliches . . . Mehr vermochte er nicht zu erkennen, weder das Gesicht noch die Gestalt. Der Mann sprang ohne einen Laut zur Seite und stürzte Hals über Kopf durchs Gebüsch davon.
    »Hinterher!«, rief Sidorow. »Fallt ihm in den Rücken, Jungs! Stehen bleiben, hab ich gesagt! Stehen bleiben, oder ich schieße!«
    Doch trotz aller Drohungen zogen weder Sidorow noch Kolossow ihre Waffe. Wer konnte mit Sicherheit sagen, dass dieser nächtliche Streuner wirklich der Viehdieb war? Und selbst wenn – wegen einer solchen Bagatelle konnte man ihn schließlich nicht abknallen.
    So wie in dieser Nacht war Kolossow noch nie im Leben gerannt. Sidorow, den der Jagdeifer gepackt hatte, polterte mit seinen schweren Stiefeln wie ein Elch, sprang über umgestürzte Stämme, Erdhügel, Baumstümpfe. Aber schon nach fünf Minuten Verfolgungsjagd begriff Kolossow, dass der nächtliche Gast ihnen entwischt war. Er hatte sich im Wald wie in seinem Element gefühlt.
    Nachdem sie noch etwa einen halben Kilometer gerannt waren, ohne sich umzusehen, blieben sie schwer atmend wie abgehetzte Pferde stehen.
    »Das war’s, Nikita Michailowitsch. Seit dem Militär habe ich

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