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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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Professor der Universität von Tokio zu Gast. Er schenkte ihm Tee ein. Er goss seinem Gast die Tasse voll und goss immer weiter, bis der Tee über den Rand der Tasse floss, und hörte auch dann nicht auf. Der Professor hielt es nicht mehr aus und rief: › Die Tasse ist voll, mehr geht nicht hinein! ‹ Darauf sagte der Zen-Lehrer: › So wie diese Tasse, so sind auch wir bis zum Rand voll mit unseren Gedanken, Ideen und Meinungen. Wenn die Welt plötzlich eine andere Sicht der Dinge von uns verlangt, können wir nichts mehr aufnehmen. ‹ Verstehst du, Sergej . . . Ich will diese Sache frei von allen Klischees betrachten. Sicher hat Nikita auch etwas Derartiges von mir erwartet, als er mich mit zum Tatort genommen hat, aber damals hatte er nicht die nötige Geduld. Er hat lieber den traditionellen Weg gewählt.«

17 Auf der Lauer
    Für die nächtliche Expedition in den Wald staffierte Inspektor Sidorow sich aus, als wollte er in den Krieg ziehen. Der verblüffte Kolossow erblickte am Abend in seinem Büro eine ausgesprochen malerische Gestalt: in Tarnjacke und koketter Militärreithose, die in dicke hohe Lederstiefel gesteckt war; auf dem Kopf Sidorows saß eine Baseballmütze mit der Aufschrift »United Rangers«, die er offenbar auf dem Trödelmarkt erstanden hatte.
    »Zu Diensten, Nikita Michailowitsch.« Der Inspektor salutierte. »Und Sie . . . wollen Sie einfach so los? In diesen Sachen?« Halb mitleidig, halb fassungslos betrachtete er die Jeans und die kurze Pilotenjacke Kolossows. »Nehmen Sie doch wenigstens meine wattierte Weste. Wo wir hingehen, ist es feucht. Wenn man da nicht warm angezogen ist, holt man sich leicht einen Hexenschuss.«
    Kolossow wusste selbst, dass er für einen Hinterhalt im Wald denkbar schlecht ausgerüstet war. So akzeptierte er die Weste des gutmütigen Sidorow. Aus dem Safe nahm er seine Dienstpistole. Zwar würde er die Knarre kaum brauchen, aber trotzdem – die Macht der Gewohnheit!
    Die Nacht war ziemlich kühl. Am Himmel leuchteten groß und hell die Sterne. Kolossow ging auf Sidorows uraltes Motorrad vom Typ »Ural« zu und zwängte sich mühsam in den engen Beiwagen. Der Inspektor schwang sich auf den im Laufe der Zeit brüchig gewordenen Sitz und gab Gas. Mindestens fünfmal während dieser grässlichen Fahrt schloss Kolossow die Augen und ergab sich in sein Schicksal – ein Unfall schien ihm unvermeidlich. Sidorow holte die letzten Reserven aus seinem Gefährt heraus. Das Motorrad knurrte, röchelte, schüttelte sich wie bei einem epileptischen Anfall, hüpfte über Schlaglöcher und rumpelte krachend und scheppernd durch Senken. Offensichtlich glaubte Sidorow, am Lenkrad einer Harley Davidson zu sitzen. Er benahm sich auf der Straße keineswegs wie ein braver Ordnungshüter, sondern wie ein völlig entfesselter Biker. Wenn jemand ihn überholte, jagte er dem Frechdachs sofort hinterher und startete seinerseits ein Überholmanöver. Der Anblick fremder Blinker war ihm schlichtweg verhasst. Kolossow klammerte sich krampfhaft an die Ränder seines »Körbchens«, wie Sidorow den Beiwagen zärtlich nannte, und fluchte leise vor sich hin.
    Das Motorrad hüpfte wie eine Kröte über die Unebenheiten der Straße und bog schließlich von der viel befahrenen Chaussee auf einen Feldweg ein. Heulend, mit den Bremsen quietschend und über die Schlaglöcher polternd, legten sie etliche Kilometer über Land zurück. Schließlich stoppte Sidorow und stellte mit triumphierender Miene den Motor ab.
    »Jetzt geht es in den Wald, Nikita Michailowitsch, immer mittendurch. Und dann lange Zeit am Ufer entlang. Mit dem Motorrad kommt man da nicht mehr weiter.«
    Sie schoben ihr Gefährt in ein Gebüsch am Wegrand. Sidorow knipste die Taschenlampe an. In ihrem Lichtkegel tauchten aus der Finsternis Baumstämme auf, smaragdgrünes Riedgras und Haufen von halb verfaultem Bruchholz. Sidorow bog die Zweige auseinander und winkte dem Chef der Mordkommission, ihm ins nächtliche Dickicht zu folgen. Sehr schnell wurde Kolossow klar, wie voreilig er gewesen war, als er den klugen Rat, Stiefel anzuziehen, missachtet hatte. Unter seinen Füßen schwappte ein durch und durch mit Wasser getränktes Kissen aus Moos. Offenbar war während der Schneeschmelze im Frühling dieser Abschnitt des Waldes überschwemmt gewesen, und der Boden war bis jetzt noch nicht getrocknet, sondern hatte sich stellenweise in einen seichten, widerwärtig schmatzenden Sumpf verwandelt. Immer wieder stolpernd, trottete Kolossow

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