Der kalte Kuss des Todes
Hausangestellte Marussja. Die eine – verwirrt, grauhaarig, gekrümmt in ihrem Rollstuhl sitzend – schaute Katja aus stumpfen, verständnislosen Augen an; die andere blickte mitfühlend und bekümmert. Marussja führte Katja sogleich auf die Terrasse zum Frühstückstisch und brachte ihr rasch heißen Kaffee, eine Pfanne mit einem Omelett und Brot. Sie schwatzte dabei ohne Pause; jedes zweite Wort war »Dmitri«: »Dmitri hat angerufen, wir brauchen uns nicht zu beunruhigen, sagt Dmitri.«
Katja sollte um zwölf von einem Wagen »aus der Firma« abgeholt werden – er selbst würde sie dann nach Hause fahren.
»Hat er Stepan zum Arzt gebracht?«, fragte Katja geradeheraus.
Marussja seufzte bitter und breitete die Arme aus. »Ich weiß es nicht.«
Aber man konnte ihr vom Gesicht ablesen, dass sie Bescheid wusste oder zumindest vieles ahnte.
Gemeinsam mit Katja setzte sich Iwan, der jüngere Bruder der Zwillinge, an den Frühstückstisch. Er war bleich und hohlwangig. Er nickte Katja kurz zu. Als er von dem Wagen hörte, sagte er, er komme mit nach Moskau, zusammen mit ihnen.
»Gestern bin ich mit Dmitri direkt vom Beerdigungsessen hierher gefahren«, sagte er und rührte mit dem Löffel den Kaffee um, »er ist dort völlig ausgerastet.«
»Waren viele Leute auf dem Friedhof?«, fragte Katja. Irgendetwas musste sie diesen Jungen, den sie kaum kannte, schließlich fragen.
Iwan nickte.
»Wurde eine Messe für deinen Vater gelesen?« Das war eine wichtige Frage, und Katja war sehr gespannt auf die Antwort.
»Ja.« Iwan warf Katja einen raschen Blick zu und senkte dann sofort die Augen. »In der Kapelle auf dem Nikolo-Archangelskoje-Friedhof. Mein Vater wollte dort neben Mama beerdigt werden. Nicht bei unserem Großvater, sondern dort.«
»Bei der Mutter deiner Brüder?«
»Bei meiner Mutter.« Der Junge stützte melancholisch das Kinn auf die Faust. »Was ist gestern eigentlich passiert? Wollen Sie nicht darüber reden? Hat Stepan Sie so schrecklich geschlagen? Dieses Schwein! Mich hat er auch schon verprügelt, dann Lisa, und nun. . . Als er gestern nicht kam, wussten Dmitri und ich sofort, dass etwas geschehen ist. Bei Stepan muss man jetzt mit allem rechnen.«
Zum Begräbnis seines Vaters war Stepan nicht erschienen; Stattdessen hatte er die Zigeunersiedlung verwüstet. Katja sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Über die Ereignisse der Nacht wollte sie nicht reden. Mit niemandem.
Der Wagen traf pünktlich um zwölf ein. Ein nagelneuer weißer Audi mit Chauffeur. Iwan versuchte sofort, die Hausangestellte zu überreden, auch die Oma »einzupacken« und mitzufahren.
»Ihr müsst ebenfalls nach Moskau zurück«, wiederholte er immer wieder.
Marussja lehnte dieses Ansinnen rundweg ab. Man merkte, dass Iwan in solchen Dingen keine Autorität für sie war.
»Sie will auf keinen Fall mit mir fahren.« Iwan grinste schief. »Sie wartet erst auf Dmitris Anweisung. Ihm gehorcht die alte Närrin aufs Wort. Sie begreift nicht, dass unser guter Dmitri. . . Dem sind die beiden doch völlig egal! Die Oma steckt er wahrscheinlich ins Altersheim, und Marussja schmeißt er sowieso achtkantig raus. Uns alle wird er rauswerfen – so weit weg wie möglich.«
»Du bist ungerecht, Iwan.« Katja wusste nicht recht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. »Dmitri ist jetzt die Stütze eurer Familie.«
Iwan spuckte nur aus.
Zu Hause in Moskau angekommen, ging Katja noch einmal unter die Dusche und hörte dann die aufgeregten, flehenden Tiraden Sergejs auf ihrem Anrufbeantworter ab. Mehr als alles andere fürchtete sie, dass Wadim gestern angerufen haben könnte, als sie nicht zu Hause gewesen war. Aber der Kurgast hüllte sich in Schweigen. Egal, sie hätte ihm sowieso nichts erzählt. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen, als Wadim zu sagen, dass sie in der letzten Nacht fast vergewaltigt worden wäre.
Gewalt. Wie viele Artikel hatte Katja über die unglücklichen Frauen geschrieben, die Opfer von Vergewaltigung und sexueller Nötigung geworden waren. Was hatte sie sich alles für kluge, taktvolle, mitleidige Ratschläge ausgedacht!
Am folgenden Tag fuhr Katja etwas früher ins Büro und suchte aus ihrem Schreibtisch eine Broschüre des Rehabilitationszentrums »Schwestern« heraus, dessen Mitarbeiterinnen sie schon des Öfteren interviewt hatte. Dieses Zentrum bot den Opfern sexueller Gewalt psychologische und juristische Hilfe an. Fieberhaft blätterte sie in dem Heftchen und dachte dabei: Warum mache
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