Der kalte Kuss des Todes
hat das alles noch verschlimmert. Er war ja heute nicht mal beim Begräbnis!«
»Er war nicht beim Begräbnis seines eigenen Vaters?«
Dmitri schüttelte traurig den Kopf.
»Ich habe auf ihn gewartet, aber er ist nicht gekommen. Ich hatte Angst, dass irgendetwas Schlimmes geschehen sein könnte. Sergej hat mir gesagt, dass Sie zu den Zigeunern gefahren sind, Katja. Ich bin direkt aus dem Restaurant von der Beerdigungsfeier hierher gekommen. Zuerst wollten mir diese Hundesöhne nicht sagen, wo Stepan ist, ich musste sie erst gründlich zusammenstauchen. Als ich in der Zigeunersiedlung eintraf, waren dort schon die Feuerwehr, Krankenwagen, schreiende Frauen . . . Ich war zu spät gekommen. Und Sie . . . Sie habe ich auch verpasst.« Dmitri sah ihr nicht in die Augen. »Katja, vergib uns . . . mir und ihm. Stepan weiß nicht, was er tut. Das ist nicht er, das ist diese Krankheit, verstehst du? Nur ich allein weiß, wie er früher war, vor dieser verfluchten Jagdpartie, vor dem Krankenhaus. Was du . . . was Sie von ihm denken, was Sie vermuten, Katja, ist alles Unsinn. Ich schwöre dir, mein Bruder kann niemanden töten! Ich bitte Sie, Katja, stürzen Sie Dmitri nicht ins Unglück! Sprich nicht. . . sprechen Sie nicht über das, was geschehen ist. Der Miliz geht es doch nur darum, einen Täter vorweisen zu können, und Stepan ist nicht bei Sinnen. Ich bringe ihn gleich morgen früh zum Arzt, Katja. Vielleicht gelingt es mir, ihn ins Krankenhaus einweisen zu lassen!«
»Ist er dort geblieben?« Katja blickte zu den Fenstern der Schule hinüber.
»Ja. Ich bringe dich zu uns auf die Datscha. Dann fahre ich noch einmal los und hole Stepan. Er hat mir versprochen, hat mir sein Wort gegeben . . . Bitte, verzeih ihm. Und sprich zu niemanden darüber. . . mir zuliebe, Lisa zuliebe, unserer Familie zuliebe!«
Katja spürte, wie wieder Übelkeit in ihr aufstieg. Dmitri war seinem Bruder sehr ähnlich.
»Bring mich weg von hier«, sagte sie heiser. »Und stell mir keine Fragen mehr. Und bitte mich auch um nichts. Ich weiß noch nicht, was ich versprechen kann. Und was ich von euch allen halten soll. . .«
21 Auf glühenden Kohlen
Die ganze Nacht träumte Katja von einem leeren Boot mit abgebrochenen Rudern. Es glitt über den Fluss, getrieben von der langsamen Strömung. Das Wasser des Flusses war braun und lehmig, und in seinen trüben Fluten waren weder Sandbänke noch der Grund zu sehen.
Erst spät wachte sie auf und schaute auf die Uhr, die sie immer noch an ihrem linken Arm trug und die sogar noch ging: Viertel vor elf. Regen prasselte ans Fenster.
Nur verschwommen erinnerte sich Katja, wie Dmitri sie gestern nach Uwarowka auf die Datscha gebracht hatte, wie die aufgeregte Hausangestellte Marussja sie dort begrüßt hatte und wie sie dann nach oben gestiegen war, in das Schlafzimmer im ersten Stock, in dem sie nun lag. Offenbar hatte Dmitri ein Beruhigungsmittel in ihren süßen heißen Tee getan, vielleicht auch eine Schlaftablette.
Gleich beim ersten Blick, den sie auf die Einrichtung warf, war ihr klar: Das war Dmitris Zimmer. Er hatte sie in sein eigenes Bett gelegt. Die Bettwäsche war frisch, sauber, gestärkt. Auf dem Nachttisch neben dem Bett lagen ein Handtuch und noch ein paar andere Sachen. Die Möbel im Zimmer waren einfach wie auf allen alten Datschen. Neu waren nur eine Videoanlage auf dem Fensterbrett und ein Stapel Kassetten. Auf dem Nachttisch lagen auch ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten. Daneben stand ein gerahmtes Foto; es zeigte eine sehr schöne Frau in einem kurzen bunten Crimplene-Kleid in der Mode der Siebzigerjahre. Sie hielt zwei ernst dreinschauende ABC-Schützen an der Hand, Zwillingsbrüder, jeder mit einem üppigen Gladiolenstrauß im Arm. Katja erinnerte sich, dass Sergej ihr erzählt hatte, die Mutter der Zwillinge, die erste Frau Wladimir Basarows, sei in ganz jungen Jahren an Diabetes gestorben.
Katja seufzte tief, rieb sich die Augen und schlug die Decke zurück. Sie auszuziehen hatte Dmitri sich offensichtlich nicht getraut, und so hatte Katja die ganze Nacht in ihren Kleidern geschlafen. Es waren nur noch Lumpen – an der Strickjacke war kein einziger Knopf mehr, und die Naht des Rockes war gerissen. Sie hob das Handtuch hoch. Darunter lagen ein ordentlich gefalteter Männerbademantel aus Frottee und ein dunkelblauer weicher Männerpullover. Dmitri hatte ihr seine eigenen Sachen gegeben.
Unten traf Katja auf die beiden alten Frauen: Anna Pawlowna und die
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