Der kalte Kuss des Todes
ich mich eigentlich verrückt? Schließlich ist doch alles glimpflich ausgegangen.
Aber innerlich war Katja zutiefst aufgewühlt und sich selbst zuwider, denn sie wusste, dass sie in der vergangenen Nacht trotz der Schläge bereit gewesen war, Stepan nachzugeben. Was hatte es für einen Sinn, sich selbst zu belügen? Sie schlug die Broschüre zu und warf sie zurück in die Schublade. Kurz dachte sie daran, wie Stepans Haut sich angefühlt hatte, seine Muskeln. . . nein, denk lieber an etwas anderes, denk daran, wie er gebrüllt und getobt hat, wie er die Zigeunerin mit Füßen getreten hat! Denk daran, wie er auch dich geschlagen hat, du dumme Gans! Und so war er vermutlich auch mit Lisa umgesprungen – Iwan hatte es bestätigt. Und Katja selbst hatte ja Lisas blaues Auge gesehen. Zum Teufel mit so einer Liebe!
Katja stand auf und ging zum Fenster. Gut, dass sie so früh zur Arbeit gekommen war. Noch war niemand sonst im Pressezentrum, aber bald würden alle erscheinen. Was sollte sie tun? Wie sollte sie mit sich selbst zurechtkommen?
Trotz ihres zuvor unklaren Verdachts, trotz der tragischen Ereignisse der Nacht konnte Katja sich nicht entscheiden. Wie sollte sie sich jetzt Stepan gegenüber verhalten? Was sollte sie unternehmen? Sollte sie überhaupt etwas tun?
Der Gedanke, dass dieser Mann womöglich der Mörder sein könnte, nach dem man in Rasdolsk nun schon drei Wochen lang fahndete, machte ihr viel mehr zu schaffen, als ihr lieb war. Sie konnte selbst nicht begreifen, was mit ihr war. Eigentlich hätte sie ihn hassen müssen, aber sie konnte es einfach nicht.
Psychisch war er offensichtlich nicht normal. Er war aggressiv und unvorhersehbar in seinen Handlungen. Ja, auch mit ihr war er umgesprungen, wie man es sich schlimmer kaum vorstellen konnte. Trotzdem – ihn auf Grund irgendwelcher verrückter, fantastischer Theorien über Werwölfe solch entsetzlicher Morde zu beschuldigen, einen jungen Mann aus einer so bekannten Moskauer Familie, einer Familie, die mit den Krawtschenkos seit langem gut befreundet war. . .?
Andererseits, wenn Stepan wirklich der Gesuchte war, dann war sie schuld, wenn wieder etwas passierte . . . Schuld woran? Angenommen, er beging einen weiteren Mord? Aber wie kam sie überhaupt darauf, dass er dieser Wahnsinnige sein könnte . . .?
Und alles fing wieder von vorn an.
Schließlich rief sie bei Spizyn in Rasdolsk an. Der berichtete, dass in der Nacht bei den Zigeunern – offenbar aus Unachtsamkeit, im Alkoholrausch, denn sie hatten dort irgendetwas gefeiert – ein Feuer ausgebrochen war. Ein halb fertiges Gebäude und zwei Autos waren verbrannt. Ein Löschtrupp der Feuerwehr war zur Brandstätte ausgerückt.
Dann war das also die Feuerwehrsirene gewesen, nicht die der Miliz, überlegte Katja.
Ob es bei dieser Feuersbrunst Tote gegeben habe? Nein, beruhigte Spizyn sie, es gab keine Opfer. Zwar sei der Rettungswagen gekommen, aber nur zu einer Frau, die einen Herzanfall erlitten hatte. Doch eine Einlieferung ins Krankenhaus hatte sie abgelehnt. So sind die Zigeuner – sie glauben nicht an Ärzte.
Das bedeutete also, Leila und ihr Sohn waren am Leben. Gott sei Dank! Katja holte tief Luft. Sie hatte Leila hilflos zurückgelassen, wenn auch nicht aus freien Stücken. Gut, dass nichts Schlimmes passiert war.
Doch die Nachrichten waren nicht nur beruhigend. Offenbar ahnte also niemand in Rasdolsk, was in der Nacht bei den Zigeunern tatsächlich geschehen war. Die Zigeuner selbst schwiegen. Und würden weiter schweigen, denn auch an die Miliz glaubten sie nicht.
Katja rief noch einmal in Rasdolsk an. Diesmal bat sie den Wachhabenden, sie mit Kolossow zu verbinden. Sie wusste noch nicht, was sie ihm sagen sollte, wie sie sich herauswinden und die Wahrheit vertuschen konnte. Der Wachhabende teilte ihr mit, der Chef der Mordkommission halte sich das ganze Wochenende im Untersuchungsgefängnis von Oktjabrsk auf, wo er an einem neuen Mordfall arbeite. Katja legte auf. Folglich wusste Kolossow also auch nichts. Und er würde auch nichts erfahren, wenn sie es ihm nicht erzählte. Allmählich hatte Katja das Gefühl, dass in diesem verfluchten Fall alles von ihr abhing. Und das war einfach unerträglich!
Vielleicht sollte sie mit Dmitri sprechen, sich mit ihm beraten? Seltsam, aber ihm gegenüber verspürte Katja nicht diese quälende Scham, die ihr bei allen anderen den Mund versiegelte. Der Zwillingsbruder wusste ja ohnehin alles. Und er hatte sie gerettet, war im schrecklichsten
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