Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
jedes Jahr. Auch telefoniert. Aber Ajdin war für ihn immer weniger Thomas. Thomas ist in Bosnien geblieben.«
»Und die Tochter?«
»Lilly? War meine dritte Tochter.«
Lilly, dachte Adamek.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Milo. »Er ist nicht verrückt, er leidet nicht an Demenz oder so. Natürlich weiß er, dass Thomas nicht tot ist. Aber das verliert immer mehr an Relevanz. Er lebt mit einer anderen Geschichte.«
Adamek stand auf, öffnete den Schrank, stopfte Kleidung in die Reisetasche. »Letzte Frage: Hat Ihr Bruder in Zadolje drei Menschen ermordet?«
»Nein. Das habe ich Ihnen heute Morgen schon gesagt.«
»Was macht Sie so sicher?«
»Er ist mein Bruder!«
»Und das ist mein Problem. Sie lieben ihn. Sie schützen ihn.«
Milo schwieg.
»Er hat auf Menschen geschossen, Herr Ćavar.«
»Nur auf Menschen, die ihn töten wollten. Nicht auf Zivilisten. Mein Bruder ist kein Mörder.«
»Okay«, sagte Adamek.
Thomas war naiv gewesen, hatte sich nach einer Heimat gesehnt, war den Rattenfängern erlegen, weil er gedacht hatte, das Richtige zu tun. Er hatte keinen Hass empfunden, keine Rachsucht. Er hatte schlicht keinen Grund gehabt, unbewaffnete Menschen zu töten. Im Gegenteil, er habe, so hatte Milo am Morgen erzählt, versucht, die Morde zu verhindern. Als ihm das nicht gelungen war, kündigte er an, sie dem Oberkommando zu melden. Daraufhin wurde er festgenommen, und weil er sich widersetzte, drohten seine Vorgesetzten, ihn als Deserteur vors Kriegsgericht zu bringen. Falls er bis dahin überlebe.
Sie sperrten ihn in einen Keller, die Dämmerung zog herauf, dann die Nacht, Thomas war überzeugt, dass er den Morgen nicht erleben würde.
Dietrich befreite ihn.
Der Söldner? Der war auch in Zadolje?
Ich glaube, er war immer dabei.
Adamek versuchte, sich diesen seltsamen Freund vorzustellen. Ein Söldner aus Berlin, der in den achtziger Jahren, wie Thomas Milo erzählt hatte, in Afrika gekämpft habe, 1991 nur deshalb nach Südosteuropa gewechselt sei, weil er die afrikanische Hitze nicht mehr vertragen habe. Aus irgendeinem Grund hatte er an dem idealistischen, gut zehn Jahre jüngeren Deutschkroaten aus Rottweil einen Narren gefressen. Er rief ihn zu Hause an, wenn kroatische Armeeaktionen bevorstanden, holte ihn in Zagreb ab, wo Thomas den Granada stehen ließ, fuhr mit ihm ins Kampfgebiet, übte das Schießen mit ihm. Ein bizarres Duo, dachte Adamek. Der Söldner und der Kriegstourist.
Ein paar Tage nach Zadolje hatten sich ihre Wege für immer getrennt.
Sie hatten sich nach Bosnien durchgeschlagen. Dietrich wollte mit den kroatischen oder den bosnischen Streitkräften zur Entscheidungsschlacht nach Banja Luka, Thomas wollte nach Hause. Er hatte genug vom Krieg, war verängstigt, desillusioniert. Noch einmal rettete Dietrich ihn, der HVO -Mörder war ihnen ins bosnische Drvar gefolgt, das von den Kroaten erobert worden war, Dietrich sah ihn rechtzeitig.
Thomas tauchte in den Flüchtlingsströmen unter und kehrte im Herbst 1995 unter dem Namen Ajdin Imamović als muslimischer Kriegsflüchtling nach Deutschland zurück. Eine Weile hing er in den Mühlen der Bürokratie fest, Sammelstelle, Auffanglager, dann konnte Milo ihn herausholen, nicht als Bruder natürlich, sondern als Cousin. Es gelang ihm, Jelenas Eltern, die kurz vor der Rückkehr ins ehemalige Jugoslawien standen, zu überreden, ihm ihre Telefonnummer zu geben.
Zusammen fuhren sie nach Hamburg.
Thomas wollte den Bosniaken Ajdin Imamović wieder verschwinden lassen. Jelena und Milo flehten ihn an, die falsche Identität zu behalten.
Eine kluge Entscheidung.
Bis weit ins nächste Jahr hinein riefen befreundete und fremde Kroaten bei den Ćavars an und erkundigten sich nach Thomas –Bekannte aus Rottweil, Kriegskameraden, Behörden aus Zagreb, alle mit plausiblen Gründen.
Die Armee suchte ihn.
Es klopfte, Schneider trat ein. Adamek hob die Brauen, wartete gespannt.
Sie schüttelte den Kopf.
Adamek griff nach der Reisetasche, sie mussten sich beeilen, er war auf einen verspäteten Flug gebucht, der in einer Stunde in Stuttgart landen würde. Der nächste ginge erst am frühen Nachmittag.
Sie eilten hinunter.
»Schade«, sagte er.
»Ja.« Schneider lächelte. »Aber Georg würde mitkommen.«
»Georg?«
»Georg Scheul. Mein Chef.«
»Nein, danke.«
Vor der Hoteltür wartete ein Streifenwagen. Überrascht wollte er protestieren, fahr du mich, ich habe mich an deinen Fahrstil gewöhnt, für mein Becken ist es
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