Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
unserem jungen Land eine Chance.«
»Gut, hier ist Ihre Chance: Wer ist der Kapetan?«
»Eine Legende, gospođo .« Marković’ Stimme klang traurig. »Er hat keinen Namen, er hat nie existiert.«
Das Taxi hielt vor ihnen, sie öffnete die Tür. »Chance verspielt, gospodine .«
Dann saß sie auf kaltem Leder, atmete teures Parfüm ein, spürte die Augen des Fahrers im Rückspiegel auf sich liegen. Sie nannte ihre Adresse, sah ihn nicken. Der Wagen fuhr an.
Und hielt wieder.
Zvonimir war vor das Taxi getreten, stand reglos da, die Hände vor dem Unterleib verschränkt. Angst und Wut ergriffen sie, hastig sagte sie auf Englisch: »Können Sie um ihn herumfahren?«
Der Fahrer schüttelte den Kopf.
Da klopfte Marković an das Fenster neben ihr. Ohne dass sie die Hand bewegt hätte, senkte sich die Scheibe.
Er bückte sich leicht. »Fast hätte ich es vergessen. Ich möchte Sie zu einem Empfang des Innenministers für Zagrebs Kulturschaffende einladen, zu denen Sie ja auch gehören. Freitagabend, zwanzig Uhr. Sie werden interessante Menschen kennenlernen. Auch Irena Lakič wird kommen. Haben Sie Zeit?«
Ahrens antwortete nicht.
»Machen Sie mir die Freude, gospođo . Gute Nacht.«
Die Scheibe glitt nach oben, der Wagen fuhr an. Sie legte den Kopf an die Lehne, schloss die Augen. Klassische Musik erklang aus dem Radio, eine Mozart-Symphonie. Die Angst brach sich Bahn, sie lachte lautlos, mit Mozart durch die kroatische Nacht, an illuminierten Theaterkulissen vorbei, in den zitternden Gliedern ein veritabler Schreck. Beobachtet und bedroht von Menschen aus einer anderen, einer eisernen Welt, die mit aller Kraft ein Bild der Vergangenheit bewahren wollten, das sie zu ihrem Ideal erkoren hatten.
Die nicht begriffen, dass auch sie dieses Land liebte und das Ideal nur deshalb zertrümmerte.
15
MITTWOCH, 13. OKTOBER 2010
ROTTWEIL
Saša Jordan war lautlos gekommen und lautlos gegangen. Niemand hatte ihn gehört, nicht einmal der Hund Methusalem.
Zweihundert Schritte von Bachmeiers Hof entfernt blieb er im Gras neben der Schotterstraße stehen. Der Himmel schwarz, kein Stern zu erkennen, tiefe Wolken lagen über dem Tal, die Dunkelheit vollkommen.
Vier Minuten, schätzte er, bis die Glocken der fernen Kirche zwei Uhr schlügen.
Das Signal für Igor.
Dann musste Jordan schnell sein. Dreihundert Meter zum Wald, ein Kilometer zu dem Forstweg, den Igor mit dem Auto passieren würde. Auf Nebenstraßen würden sie an Rottweil vorbei nach Norden fahren. Sie hatten die Hotelzimmer gekündigt, würden in einer Hütte im Wald wohnen, zwanzig Kilometer in Richtung Stuttgart, bis der Anruf kam.
Falls er kam.
Wie so oft in den vergangenen Tagen dachte Jordan an die unruhigen Augen von Markus Bachmeier, die eine andere Geschichte erzählt hatten als sein Mund.
Ihr müsst euch sicher sein, hatte Marković gesagt.
Dann lassen Sie uns freie Hand, hatte Jordan erwidert.
Es hätte alles so schnell gehen können. Sie hätten sich Bachmeier oder Milo Ćavar geholt, hätten eine Stunde später Gewissheit gehabt. Längst hätten sie Deutschland verlassen.
Doch Marković wollte keine Gewalt, kein Blut. Zu gefährlich, fand er. Irgendjemand würde ihre Spuren zu den Toten von Zadolje im August 1995 zurückverfolgen. Sie würden dem General keinen Gefallen tun. In ihrem Wahn würden die Ankläger ihm auch das anlasten, was heute und hier geschah.
In Deutschland, hatte Marković gesagt, musste es ohne Blut gehen. In Zagreb, bei der Journalistin, die Thomas Ćavar aus den Kellern des Vergessens geholt hatte, verfügte man über andere Möglichkeiten.
Marković hatte nie gekämpft. Er wusste nicht, dass es manchmal nicht ohne Blut ging. Wie wenige Stunden zuvor bei Jordans Begegnung mit dem Serben aus der Krajina, dem Sohn Sava und dem Neffen Vlad.
Die Hand in der Jackentasche, wandte er sich um.
Unsichtbar lag der Hof in der Nacht.
Er war froh, dass der Hund nichts gehört hatte. Dass er ihn nicht hatte töten müssen.
Mit einem blubbernden Schnarchen und leisen Seufzern hatte Methusalem in seiner Hütte gelegen, erschöpft von der Anstrengung eines weiteren Tages in einem unbegreiflich langen Leben. Nur ungern hätte Jordan dieses Leben beendet. Zwanzig Jahre waren ein Wunder. Ein solches Wunder durfte man nicht vorsätzlich beenden. Man musste warten, bis es von selbst geschah.
Während er über den Vorplatz zur Scheune geschlichen war, hatte er begriffen, dass nicht nur der Hund loyal war. Bachmeier hätte ihn längst
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