Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
den Sohn nehmen und die Einsamkeit und den Zorn bringen.
Hunderte Zierteller an die Wände hängen …
So viele, dass nur in der Laibung zu beiden Seiten des Fensters Platz für Fotografien geblieben war.
»Und Milo?«, fragte er. »Hat er auch für Kroatien gekämpft?«
Ćavar winkte ab. Milo, sagte er, sei ein lieber Junge, aber weich und unentschlossen. Ohne Ideale. Kein Soldat. »Ein Deutscher«, knurrte er mit einem grimmigen Schmunzeln. Die Zigarette im Mundwinkel stand er auf und ging hinaus.
Mit einer Flasche Mineralwasser und drei Gläsern kam er zurück.
»Wann haben Sie zum letzten Mal von Thomas gehört?«, fragte Schneider.
»30. August 1995.«
»Hat er angerufen?«, erkundigte sich Adamek.
»Ja.«
»Was hat er gesagt?«
»Dass er mit Kameraden nach Bosnien gegangen ist.«
»Noch etwas?«
»Dass er helfen will, Serbokommunisten aus Bosnien jagen. Dass er Mutter und Vater liebt. Und wollte Milo sprechen, aber war nicht da.«
»Hat er Jelena erwähnt?«, fragte Schneider. »Jelena Janić?«
»Nein.«
»Seine Freundin«, sagte Schneider zu Adamek.
Er nickte. Ehringer hatte von ihr erzählt. Die beiden hätten ihn manchmal gemeinsam besucht im Krankenhaus in Bonn und in der Reha in Baden-Württemberg. Ein großartiges Mädchen, hatte er gesagt, schön, mutig, klug. Stark genug für diesen Kindskopf, dachte ich, aber am Ende hat sie kapituliert.
»Ist sie noch in Rottweil?«, fragte Adamek.
Ćavar schüttelte den Kopf. »Familie ist nach Serbien gegangen, Ende 1995.« Er zuckte die Acheln. »Sie war nicht wichtig. Eine von vielen. Die Mädchen mochten meinen Sohn.« Er klopfte Asche vom Zigarettenstummel, zog ein letztes Mal daran, drückte ihn aus. Die andere Hand lag schon auf der Schachtel.
Adamek erhob sich. »Darf ich?« Er deutete auf die Fotos in der Laibung.
Ćavar nickte wortlos.
Auf jeder Seite des Fensters hingen ein knappes Dutzend Aufnahmen, mit Tesafilm untereinander befestigt. Rechts zwei Jungen unter zehn, dann dieselben Jungen als Teenager, als junge Männer, da sahen sie dem Vater im Gesicht am ähnlichsten, der eine mit Wuschelkopf, fröhlich, dünn, der andere älter, ein wenig fülliger, skeptischer – Thomas und Milo. Links ihre verstorbene Mutter, auch hier war die Ähnlichkeit unverkennbar. Dann Milo mit Anfang dreißig, eine deutsch aussehende Frau im Arm. Zwei pummelige Mädchen – Studioporträts, beim Spielen in einem Garten, mit Milo, mit der deutschen Frau. Schließlich ein drittes Mädchen, deutlich jünger, schmal und scheu, ein Nachkömmling, vielleicht ungeplant, dachte Adamek.
Da kam ihm ein anderer Gedanke.
»Milos Frau und Kinder?«
»Ja.«
»Er hat drei Töchter?«
»Ja.«
»Wie alt?«
»Dreizehn, zwölf und acht.«
Adamek lächelte versonnen. »Drei Töchter.« Er konnte den Blick nicht von dem dritten Mädchen lösen, das keinerlei Ähnlichkeit mit den beiden anderen aufwies, auch nicht mit Milo oder der deutschen Frau.
Kein Kuckuckskind, kein Adoptivkind, kein uneheliches Kind, darauf hätte er plötzlich jeden Eid geschworen.
Das dritte Mädchen war die Tochter von Thomas.
Ćavar hatte Sliwowitz gebracht, »echte kroatische Šljivovica , nicht von deutsche Supermarkt«. Adamek hatte eingewilligt, es ging gegen halb sechs, spätestens wenn man das Haus verließ, befand man sich im Feierabend, und vielleicht regte der Schnaps ja die Gedanken an, half, Ćavars Lüge zu erklären und den Widerspruch aufzulösen: Thomas war 1995 gestorben und hatte 2002 eine Tochter gezeugt.
Falls Adamek recht hatte.
Auch Schneider trank. »Scheiße«, sagte sie ächzend und griff nach dem Wasserglas.
Ćavar lachte spöttisch.
Sie saßen nun beinahe im Dunkeln, das Licht blieb ausgeschaltet.
Wir brauchen ein Foto von Jelena, hatte Adamek geflüstert, während Ćavar den Sliwowitz holte. Schau dir das Mädchen ganz unten an. Schneider hatte die Bilder betrachtet, lächelnd wieder Platz genommen – in der Akte »Kroatien« vor ihr lag bereits ein Foto von Jelena, aus deren Einschreibung an der Uni Stuttgart im Herbst 1990, Studiengang Architektur und Stadtplanung.
Sie hatten einen raschen Blick darauf geworfen. Eine gewisse Ähnlichkeit bestand, für Adamek deutlich erkennbar, für Schneider ansatzweise.
»Sagt Ihnen der Name Ivica Marković etwas?«, fragte Adamek.
Ćavar füllte sein Schnapsglas, trank, erwiderte dann, Ivica Marković sei zwischen 1990 und 1992 hin und wieder in Stuttgart gewesen, beim Kreisverband Stuttgart der HDZ , der
Weitere Kostenlose Bücher