Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Elisabeth Wiebringer wirkte erleichtert, lächelte sogar flüchtig, als hätte sie einen Test bestanden.
»Die Anna ist jetzt dreizehn und die Julia zwölf«, flüsterte sie.
»Ja«, sagte Adamek. »Der Tommy hatte eine Freundin, bevor er …«
»Die Jelena!«, unterbrach sie ihn strahlend.
Der nächste Test, wieder bestanden.
»Eine Serbin, nicht wahr?«
»So ein hübsches, gescheites Mädchen! Wenn sie nur keine Serbin gewesen wär.«
»Hübscher als die anderen?«
»Die anderen?«
»Seine andere Freundinnen.«
»Aber es gab keine anderen, Herr …«
»Adamek.«
»Es gab nur die Jelena, Herr Adamek.«
»Ja, das dachte ich mir. Nur Jelena, die Serbin.« Er stand auf.
»Er hat sie heiraten wollen«, sagte Elisabeth Wiebringer.
»Woher wissen Sie das?«
»Alle wussten es. Er hat’s ja allen erzählt.«
»Aber Jelena wollte nicht?«
»Schon, aber erst nach dem Krieg.«
»Was hat sein Vater dazu gesagt?«
Sie zuckte die Achseln. »Dem Tommy konnte niemand was ausreden.« Sie rutschte ein Stück in seine Richtung. »Sie verraten mich nicht, oder?«
»Nein.«
»Kommissarsehrenwort?«
»Kommissarsehrenwort. Licht aus?«
»Ja, bitte.«
Im Flur hielt Adamek inne. Wieder die Formel – Im September 1995 in Bosnien von den Serben ermordet, die Leiche in ein Massengrab geworfen.
Elisabeth Wiebringer glaubte sie, da war er sicher.
Lautlos stieg er die Stufen hinab.
Die Formel, die ein Märchen war.
19
DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010
ZAGREB/KROATIEN
»Ein Serbe?«
»Er ist der Einzige mit dem Kampfnamen ›Kapetan‹ in unseren Datenbanken.«
Yvonne Ahrens betrachtete den Artikel, der umgedreht auf Jagoda Mayrs Schreibtisch lag. Selbst aus dieser Perspektive waren die Aggressivität des Kapetan und die Angst des alten Mannes auf dem Foto unverkennbar.
Der Kapetan ein Serbe ? Hatten die kroatischen Journalistenkollegen 1995 im nationalen Siegesrausch aus Versehen einen Milizenführer der Krajina-Serben zu einem ihrer Helden gemacht? Undenkbar, dass sie sich so getäuscht hatten. Doch was war schon undenkbar in diesem Krieg?
Seit ein paar Minuten saß Ahrens im Zagreber Büro des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Vor dem einzigen Fenster des kleinen Raumes glühte ein roter Himmel, färbte die Wände, Gesicht und Arme von Jagoda Mayr rot. Ganz allmählich wurde das Rot dunkler.
Mayr, siebenundfünfzig, promovierte Juristin, entsprach haargenau dem Bild, das Ahrens sich von Kroatinnen gemacht hatte, bevor sie nach Zagreb gezogen war: orangefarbenes Haar, bleicher Teint, zahllose Zigaretten, in permanenter Bewegung, nicht allzu stilsichere, dafür umso körperbetontere Kleidung. Ein bisschen rau, ein bisschen distanziert, ganz plötzlich herzlich.
Mayrs Familie väterlicherseits stammte aus Kärnten, war im Laufe der Jahrhunderte immer tiefer nach Süden gerutscht und schließlich in Zagreb gelandet; dort war sie geboren worden. Ihr Deutsch hatte starke slawische und österreichische Einschläge, ließ alte k.u.k.-Zeiten anklingen.
Die Anfänge des ganzen Dilemmas.
Der eine Teil des Balkans unter österreichisch-ungarischer Herrschaft, der andere unter türkischer. Im Widerstand gegen die fremden Herrscher waren die nationalen Identitäten entstanden, die erst die Gemeinsamkeiten, später die Unterschiede der einzelnen slawischen Völker betont hatten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten viele Kroaten und Serben einen gemeinsamen Staat gefordert. Vor allem in Bosnien-Herzegowina entstanden immer mehr Bewegungen mit revolutionärem Charakter, Vorbilder waren Italiens Garibaldi und Russlands Bakunin. Ihre Ziele: Befreiung von Österreich-Ungarn, Vereinigung der Südslawen in einem eigenen Staat, Gleichberechtigung der Frauen, demokratische Partizipation der Bürger.
Manche der überwiegend jungen Revolutionäre waren bereit, dafür zu sterben – und zu töten.
So auch Gavrilo Princip, bosnischer Serbe und »jugoslawischer Nationalist«, wie er später vor Gericht sagte. Für die Befreiung und die Vereinigung wurde Princip, unterstützt vom serbischen Geheimdienst und dunklen Bünden, zum Prinzenmörder. Am 28. Juni 1914 tötete er in Sarajevo den Thronfolger der verhassten Besatzungsmacht, Erzherzog Franz Ferdinand, und dessen Frau Sophie.
Vier Jahre später waren die Ziele erreicht, Serben, Kroaten und Slowenen in einem Staat vereint. Weitere dreiundzwanzig Jahre später zogen sie los, um sich gegenseitig zu vernichten.
»Hören Sie überhaupt
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