Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
was?«
»Eine Russenmütze.«
Es war dunkel geworden in dem nüchtern eingerichteten Büro, halbhohe Schränke an zwei Seiten, dazwischen der Schreibtisch. Keine Pflanzen, keine Bilder, die Wände kahl, auch Familienfotos hatte Jagoda Mayr nicht aufgestellt. Als sollte nichts Schmückendes darüber hinwegtäuschen, dass es hier Tag für Tag um grausame Verbrechen ging.
Mayr stand auf und schaltete das Licht ein. Im unfreundlichen Schein der Lampe waren in unregelmäßigen Abständen schwärzliche Punkte an den Wänden zu erkennen.
Ahrens stutzte.
»Mücken«, bestätigte Mayr freudlos und wies auf eine Fliegenklatsche, die am Rand des Schreibtischs lag. »Kroatische, serbische und muslimische Mücken.«
Der Reihe nach zeigte sie auf zerschlagene Insektenreste. »Blaškić, Mucić, Gotovina, Milošević, Glavaš, Plavšić, Markać, Janković, Karadžić, Norać, Ademi, Vasiljković …«
Immer mehr Namen füllten den Raum, während Mayr sich mit erhobenem Arm im Stuhl langsam um die eigene Achse drehte und Ahrens’ Blick von Fleck zu Fleck glitt. Namen, die als wundervoll klingende Chiffren die Grausamkeiten der jugoslawischen Zerfallskriege nacherzählten und ihr zum größeren Teil unbekannt waren. Kein Wunder, allein der ICTY hatte seit 1993 mehr als 160 Personen angeklagt.
Mayr war beim letzten Fleck angekommen – Župljanin – und drehte sich wieder zu ihr. »Vierundfünfzig in vier Jahren. Die Biester sind flink, viele erwische ich leider nicht. Aber ich habe Geduld.«
»Da«, sagte Ahrens und deutete auf die Wand.
Mayr griff zur Fliegenklatsche. »Ihr Kapetan«, sagte sie und schlug zu.
Die Mücke sirrte hektisch davon.
»Verflucht. Ich hoffe, Sie sind nicht abergläubisch.«
Ahrens lächelte. »Vielleicht haben wir noch eine Chance.«
»Die richtige Einstellung. Was machen wir jetzt mit Dragan Vasiljković?«
»Er ist es nicht.«
»Wir könnten die kroatische Justiz hinzuziehen. Die finden es sicher heraus.«
Ahrens hob die Brauen. Die kroatische Justiz?
Wie so oft in den letzten Tagen dachte sie an Irena Lakić und deren Warnungen. Sprich von jetzt an mit niemandem mehr darüber, okay? Nur noch mit mir. Du wirst paranoid, dachte sie.
»Die kroatische Regierung ist bereits informiert«, sagte sie und erzählte von Marković.
Mayr kannte ihn. Ein Urgestein der HDZ , operierte schon immer lieber aus dem Hintergrund als im Rampenlicht. Ein Politiker, der nie ein höheres Amt angestrebt hatte und deshalb vom Wohlwollen der Öffentlichkeit weitgehend unabhängig war.
Ahrens gab sich naiv. »Unterstützt er das Tribunal?«
»Kaum jemand in Kroatien unterstützt das Tribunal. Es ist hier nicht sehr populär, wissen Sie. Keiner versteht, weshalb unseren Generälen der Prozess gemacht wird.« Mayr stand auf, hantierte an einem Hängeregister, kam mit einer weiteren Akte zurück und klatschte sie auf den Tisch. »Wenn Marković an Ihrem Kapetan dran ist, müssen Sie sich vorsehen. Er ist ein beinharter Verteidiger.« Sie lächelte. »Spielen Sie Fußball?«
Ahrens schüttelte den Kopf.
»Ich schon, im Sturm. Eine Altdamenmannschaft, sagt man so? Lauter Juristinnen, das macht das Spiel sehr sauber, keine von uns will wegen Körperverletzung oder Beleidigung verklagt werden.« Sie stieß ein raues Lachen aus. »Spaß beiseite. Wenn Sie gegen eine Verteidigung anrennen, die von Ivica Marković organisiert wird, sind Sie verloren. Die Raumaufteilung ist perfekt, seine Leute sind immer auf Ballhöhe und jederzeit bereit, taktische Fouls zu begehen. Falls Sie trotzdem mal zur Gefahr werden, lässt er Sie weggrätschen. Sie werden gegen Ivica Marković kein Tor schießen, Frau Ahrens.«
»Und Sie?«
Mayr breitete die Arme aus, als wollte sie die Welt umarmen, nicht nur ein kleines Büro mit von Mückenresten verunzierten Wänden. »Ich ja. Denn ich bin das Tribunal, und das Tribunal ist die UNO , die NATO und vor allem die EU . Kroatien muss mit Den Haag zusammenarbeiten, sonst wird die Aufnahme in die EU weiter verschoben. Das Tribunal ist der Schutzschild, unter dem ich arbeiten kann.«
Doch auch dieser Schutz sei nicht allumfassend. Wer kroatische Kriegsverbrechen recherchiere, begebe sich in Gefahr. Nach wie vor würden Zeugen des Tribunals oder kroatischer Gerichte bedroht, solidarisierten sich hohe Politiker mit den in Den Haag Inhaftierten. Die meisten Kroaten sähen die im Zuge der Operation »Sturm« begangenen Kriegsverbrechen als legitim an, sei es doch um die Befreiung kroatischen
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