Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
zu?«, fragte Jagoda Mayr.
»Entschuldigen Sie.«
»Dragan Vasiljković, genannt Kapetan Dragan.« Während sie nach links langte, nach rechts, hier ein Papier verschob, dort zur Zigarettenschachtel griff, erzählte Mayr, dass Kapetan Dragan Anfang der neunziger Jahre Schlagzeilen gemacht habe, es gebe sogar Comics über ihn. Sie inhalierte tief. »Seit Mai sitzt er in Australien in Auslieferungshaft.«
»Aber ein Serbe ?«
Mayr lächelte inmitten einer Rauchwolke, sprang auf, um das Fenster zu kippen, warf sich wieder in den Drehstuhl, zog den Rock straff. »Man kann sich’s nicht immer aussuchen.«
Dragan Vasiljković, 1954 in Belgrad geboren, 1969 nach Australien ausgewandert, 1991 zurückgekehrt. Im Krieg hatte er eine paramilitärische Einheit der Krajina-Serben geführt, die für zahlreiche Verbrechen verantwortlich gemacht wurde, darunter Folter und Mord. Eines ihrer Opfer: Egon Scotland, Reporter der Süddeutschen Zeitung , der in Jurinac südlich von Zagreb in einem mit »Presse« markierten Fahrzeug angeschossen und tödlich verletzt worden war.
»Sie erinnern sich?«
Ahrens nickte. Sie erinnerte sich gut.
Ende Juli 1991, sie war dreiundzwanzig gewesen, im ersten Jahr an der Deutschen Journalistenschule in München. Sie schlief mit einem SZ -Volontär, aß täglich in der SZ -Kantine zu Mittag, träumte von einer Festanstellung beim SZ -Feuilleton. Sie hatte Egon Scotland nie gesehen und brach doch in Tränen aus, als die Nachricht von seinem Tod die Runde machte. Neunzehn Jahre später, siebzig Kilometer von Jurinac entfernt, klang in einem in dunkelrotes Nachmittagslicht getauchten Büro des ICTY der Name jenes Mannes in ihren Ohren nach, dem Scotlands Mörder damals unterstellt gewesen war.
»Haben Sie ein Foto?«
Mayr drehte den Monitor zu ihr, und Ahrens blickte auf einen Mann in Schwarzweiß, an dem alles länglich zu sein schien: das Gesicht, die Ohren, die wuchtige Nase, die scharfen Wangenfalten, der Hals, der schlaksige Körper. Auf dem hellgrauen Haar ein Barett, das Uniformhemd fast bis zum Nabel aufgeknöpft, eine Hand in die Taille gestützt. In Vasiljković’ Miene lagen Skepsis, eine Andeutung von Unsicherheit, die Haltung eine fast lächerliche Pose. Da gerierte sich einer, der von einem Tag zum anderen Anführer geworden war, wie ein wilder, erfahrener Kämpfer und hatte es damit bis zum serbischen Helden gebracht – als Gründer einer Paramiliz mit dem lächerlichen Namen »Kninđe«, Ninjas von Knin.
»Juli 1991«, sagte Mayr. »Da war er sechsunddreißig.«
»Er sieht aus wie Mitte fünfzig.«
Mayr wechselte zu einem anderen Foto. »Hier ist er Mitte fünfzig.«
Vasiljković war 2004 unter falschem Namen nach Perth gezogen, 2006 dort verhaftet worden, eine australische Journalistin hatte ihn aufgespürt. Drei Jahre Auslieferungshaft folgten, 2009 kam er frei, der kroatische Antrag war abgelehnt worden – ein fairer Prozess sei in Kroatien nicht möglich. Im März 2010 korrigierte ein Gericht dieses Urteil, Vasiljković floh, wurde in New South Wales gefasst. Nun wartete er im Gefängnis auf die Entscheidung des zuständigen Ministers. Das zweite Foto zeigte ihn nach der Haftentlassung 2009 – dunkler Anzug mit Krawatte, gebräuntes Gesicht, das Haar inzwischen weiß. Er wirkte erleichtert, selbstzufrieden. Doch wieder lag in dem länglichen Gesicht Unsicherheit, und die Züge um den Mund und die nach oben gezogenen Augenbrauen kamen Ahrens fast weinerlich vor.
Sie zog den Artikel mit dem Foto zu sich. Eine gewisse Ähnlichkeit bestand, auch wenn sich das vor Wut verzerrte Gesicht des unbekannten Kapetan nur schlecht für einen Vergleich eignete.
Die Wut, dachte sie, passte nicht. Sie konnte sich Vasiljković nicht derart aufgebracht vorstellen. Sie traute ihm jede Grausamkeit zu, doch nicht begangen aus Wut, sondern aus Überheblichkei, Selbstinszenierung, Eitelkeit.
Außerdem war ihr Kapetan – nein, Marković’ Kapetan – auf dem Foto von 1995 keine vierzig Jahre alt, sondern eher Mitte zwanzig.
»Ich glaube nicht, dass er es ist«, sagte sie. »Er ist zu alt.«
Mayr drehte den Artikel mit der Zigarettenhand um. »Schwer zu sagen. Was hat er da eigentlich auf dem Rücken?«
»Einen Helm, der am Kinnriemen hängt.«
»Nein, nein, das ist kein Helm.«
»Ein Helm, eine Kappe.«
»Eine Mütze. Schauen Sie nur, muss aus weichem Material sein, so wie das eingedrückt ist.« Mayr klopfte mit dem Fingernagel auf das Foto. »Das ist eine Uschanka.«
»Eine
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