Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
herum.
Beckenknochen, Muskeln, Sehnen, Wirbel, die Hände kannten keine Gnade, fanden jeden wunden Punkt. Sie zerrten an seinen Beinen, verschraubten sein Becken, verschoben Knochen und Organe.
Und er stöhnte, schwitzte, litt.
Dicht vor ihm saß Schneider und gab sich Mühe, nicht zu lachen. Er sah ihre Füße, hörte ihr Gegluckse.
Die Füße bewegten sich, Dürrenmatts Der Richter und sein Henker wurde ihm vor die Nase gehalten. »Das liest du?«
»Das würde ich lesen, wenn ich Zeit hätte.«
»Intellektuellengeschenk?«
Er bejahte. Hörte das Buch auf den Schreibtisch plumpsen.
»Da?«, fragte Elfriede Münzinger und drückte tief in ihn hinein.
»Ja«, ächzte er.
Da saß der Kern des Schmerzes.
Elfriede Münzinger war Schneiders Hebamme. Eine freundliche Frau um die sechzig, die fünfzehnhundertacht Kinder auf die Welt geholt hatte, darunter neunhundertneun Mädchen, zwölf farbige, neun tote, einen aktuellen Fußballstar, und bestimmt ein paar Polizisten und Mörder .
Zwei Polizisten ganz sicher, hatte Schneider gesagt.
»Da auch«, ächzte Adamek.
Um den Schmerz zu verdrängen, rechnete er.
Bei rund siebenhundert Morden in Deutschland jährlich und einem Mordopfer pro hunderttausend Einwohner war die Chance, dass Elfriede Münzinger einen plärrenden Mörder in ihren Händen gehalten hatte, statistisch gesehen gering. Nicht ganz so unwahrscheinlich dagegen war, dass sie einen Polizisten ins karge Leben geholt hatte. Achtzig Millionen Deutsche, knapp unter dreihunderttausend Polizisten – auf hunderttausend Einwohner kamen rund dreihundertvierzig Kollegen.
»Morgen um neun haben wir einen Termin bei der Staatsanwaltschaft«, sagte Schneider und schlug die Beine übereinander. Ein Fuß wippte.
»So?«
»Wer weiß, was wir da finden.«
Adamek erwiderte nichts. Er hatte den Eindruck, dass Schneider recht genau wusste, was sie finden würden – und dass es mit ihm zusammenhing.
Vielmehr: mit dem Onkel.
»Weg«, sagte er um halb zwölf. »Die Schmerzen.«
Er saß seitlich auf der Liege und fühlte sich wie neu geboren.
Elfriede Münzinger lächelte. »Werden morgen wiederkommen.«
»Scheiße.«
»Wenn Sie fünfzig Jahre lang nicht auf sich aufpassen, dürfen Sie sich nicht beschweren.«
»Einundvierzig.«
»Und ich dachte, ich schmeichle Ihnen.«
Schneider lachte. Münzinger verzog keine Miene.
»Machen Sie mich bitte wieder ganz«, sagte Adamek.
Das Problem war das Becken. Verklemmt, schief, steif, alles andere dadurch aus der von der Natur vorgesehenen Ordnung gebracht. Die Beinlänge unterschiedlich, die Wirbelsäule gekrümmt, die Haltung bedenklich, der Gang besorgniserregend, Wirbel sprangen aus der Fassung. Ein Wunder offenbar, dass er ohne Ersatzteilkoffer verreisen konnte.
»Morgen zeige ich Ihnen Übungen«, sagte Elfriede Münzinger. Sie reichte ihm selbst im Sitzen kaum bis zur Schulter. Ihre Haare waren lang und weiß, ihre Hände schmal und klein. »Trinken, trinken, trinken, ja? Da muss jetzt viel rausgewaschen werden aus dem Körper.«
Sie klappte ihre Liege zusammen und ging.
Adamek schlüpfte in Hose und Hemd und öffnete die Minibar. »Bleibst du noch auf ein Bier?«
»Nein«, sagte Schneider.
Er trank das Bier allein.
Fünfzehn Minuten später fand er in Richtung Innenstadt einen schließenden China-Imbiss, der ihm in Fett getränkte, kalte Tagesreste zum halben Preis anbot.
Er schlief unruhig, träumte wirr.
Gegen vier erwachte er. Sein Magen war schwer und übersäuert, der Traum fast schon ein Gedanke, so nah an der Realität. Er hatte eine Katze Lilly in einem leeren Haus gesucht. Dann war das Haus nicht mehr leer gewesen, ein alter Mann war aufgetaucht und hatte gesagt: Die Lilly kommt nur, wenn niemand Fremdes da ist.
Minutenlang saß er auf dem Bett und dachte schlaftrunken nach. Die Molly kommt nicht, wenn wer Fremdes da ist.
Sie war auch nicht gekommen, nachdem die Fremden den Stall verlassen hatten.
Weil andere Fremde noch dort gewesen waren?
Das würde erklären, weshalb Dutzende Polizisten und zwei Hubschrauber bislang vergeblich unterwegs waren.
Er griff zum Telefon, der Polizistenvetter ging sofort dran. Ein guter Mann, dachte Adamek, hatte das Handy quasi auf dem Kopfkissen, hatte verstanden, worum es ging. Die Stimme rau vom Schlaf, aber er wirkte hellwach. Adamek wurde bewusst, dass er den Namen vergessen hatte. »Du unternimmst nichts«, sagte er.
Es raschelte, ein Atemstoß. Offenbar war der Polizistenvetter aufgesprungen und zog
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