Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
im Schluchzen zuckenden Körper, ihre Lippen auf seinen, ihre Hände an seinen Wangen, die dunklen Augen, die ihn verzweifelt ansahen, und er dachte: vierundzwanzig Jahre … Vierundzwanzig Jahre mit Jelena, die fünfzehn davor hätte man vergessen können, und acht davon mit der kleinen Lilly, die ihr so ähnlich war, nur ein bisschen weniger stark, und die Tage und Wochen ohne Jelena im Krieg, in denen ihn der Gedanke an sie beinahe aufgefressen hätte, ihn am Ende dann gerettet und am Leben gehalten hatte, und er hörte die ferne Männerstimme sagen, falls Sie noch eine Waffe besitzen, dann holen Sie sie und verriegeln Sie die Tür, meine Kollegen müssen jeden Moment bei Ihnen sein, und dann eine andere Stimme, eine Stimme von damals, die sagte: »Doći, Kapetane«, komm.
Hände zerrten ihn hoch, trennten ihn von Jelena. Plötzliche Kälte erfasste ihn, nackt fiel er auf die Knie, wie er am Abend des 25. August 1995 nackt auf die Knie gefallen war, die Pistole am Kopf von derselben Hand gehalten. Wie damals schloss er die Augen und dachte an Jelena und an Milo, und dann dachte er, wie bizarr das Leben doch war, fünfzehn Jahre zwischen diesen beiden fast identischen Momenten, als wäre nur eine einzige Sekunde vergangen.
III
S OLDATEN
36
MITTWOCH, 8. MAI 1991
ZIMMERN OB ROTTWEIL
Zwölf ermordete kroatische Polizisten, die Leichen auf bestialische Weise verstümmelt. Borovo Selo änderte alles.
KEINE SERBEN!/NEMA SRBI! stand handgeschrieben auf einem Blatt Papier, das an der Eingangstür des Festsaals in Zimmern ob Rottweil klebte. Thomas hatte es schon von weitem bemerkt, als sie auf das Lokal zugefahren waren. Weiß hatte es im Schein der Straßenlaterne geleuchtet. Doch erst als sie davorstanden, begriff er, was es bedeutete.
Josip versuchte, Jelena zum Bleiben zu überreden. »Du bist sicher nicht gemeint, sie haben dich doch eingeladen, oder?«
»Jetzt haben sie mich wieder ausgeladen.«
»Aber du gehörst zu uns.«
»Fährst du mich heim, Tommy?«
Thomas löste den Blick von dem Blatt. »Gehen wir ins Kino, in den Doors-Film.«
»Du gehst zu Brans Feier, Tommy. Er ist dein Freund.«
»Er ist ein Arschloch.«
Sie deutete auf das Schild. »Das war bestimmt sein Vater.«
»Bran hätte es runterreißen können.«
»Er hat heute geheiratet, da denkt man nicht an so was.«
Thomas trat zur Tür, entfernte das Papier und zerknüllte es. »War da was?«
»Ja«, sagte Jelena.
Später, als er allein nach Zimmern zurückkehrte, dachte er, dass Milo recht gehabt hatte. Es herrschte Krieg, und der Krieg war auch nach Rottweil gekommen.
Irgendwann würde er sich vielleicht entscheiden müssen.
So wie Bran, der noch in der Hochzeitsnacht in Richtung Heimat aufbrechen würde, eine Partisanenpistole aus dem Zweiten Weltkrieg in der Rückbank seines weißen VW Golf verborgen.
Die Hochzeitsfeier wurde zum Abschiedsfest.
»Lijepa naša domovino«, sang Bran mit Tränen in den Augen zum Abschluss einer kleinen Rede im Biergarten, »oj junačka zemljo mila.«
Thomas starrte ihn schweigend an.
Kannst du die Wahrheit vertragen, Tommy?, hatte Bran zwei Jahre zuvor gesagt. Mann, war ich in die verknallt! Wie in keine davor!
»Du hast Jelena ausgeladen, du Arschloch«, sagte er auf Deutsch, als Bran zu ihm trat, eine Flasche Rakija und zwei Gläser in der Hand.
Bran nickte und antwortete auf Kroatisch: »Und übermorgen schieße ich auf ihre Sippe.« Er füllte die Gläser, reichte ihm eines. » Živjeli, Tommy, auf die Heimat, auf den alten Bran, den du schon gekannt hast, als du noch nicht wusstest, wozu das Ding zwischen deinen Beinen gut ist!«
Sie stießen an, tranken.
»Irgendwann kommt das Serbische durch«, sagte Bran, »spätestens wenn du sie geheiratet hast, dann wird sie hinterfotzig und verlogen und nörgelig und fett, und dann willst du sie bloß noch loswerden.«
»Sie hat mit denen da unten nichts zu schaffen.«
»Die Mörder unserer Leute waren vielleicht ihre Onkels oder Cousins.«
»Was kann sie dafür?«
»Sie ist auf deren Seite.«
»Sie ist auf gar keiner Seite.«
»Also auch nicht auf unserer, auf deiner.«
»Fick dich, Bran.«
Bran lachte betrunken. Er hatte sich die Haare kurz schneiden lassen, an den Seiten schimmerte die Haut durch. Er war breit und kräftig, hatte einen runden Rücken, winzige Augen, ein gedrängtes Gesicht mit Knollennase, für die zwischen den dicken Wangen eigentlich kein Platz zu sein schien. Er senkte die Stimme. »Wir können hier heute keine
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