Der Kalte
Schleifmühlgasse kam und mir die Mutter geöffnet hatte, denn die Schlüssel meiner Kindheitswohnung waren irgendwo in meinem Chaos unter den Papieren oder sonst wo verschwunden, trat ich ein,
und Mutter legte sich den Zeigefinger auf ihre Lippen und deutete zu Stefans Zimmer. Ohne anzuklopfen, ging ich rein zu ihm. Er lag auf dem Bett, den Polster auf dem Gesicht.
»Geh wieder raus«, sagte er leise hinterm Polster hervor.
»Das kommt nicht in Frage«, antwortete ich, ging zum Fenster, öffnete es mit Geschepper. Über die Schulter schaute ich auf den wirklich ziemlich hingestürzten Kerl. Seine Beine hatte er aufgestellt, sodass seine Knie Polster und Gesicht halb verdeckten. Mit denen begann er Faxen zu machen, die Kniescheiben zitterten, oder er schlug sich die Beine seitlich aneinander. Ständig muss ich mich mit Besoffenen abgeben.
Nachdem ich dies und das zu ihm gesagt hatte, setzte er sich schließlich auf.
»Warum soll ich nicht auch mal einen heben gehen? Tu mich in Ruh lassen und sag der Mama, sie soll mich auch in Ruh lassen.«
»Hast du einen Grund, dich anzusaufen«, fragte ich ihn, holte mir von seinem Schreibtisch einen Sessel und setzte mich ihm gegenüber.
»Weiß nicht.«
»Machst du das öfters?«
»Seit meiner Geburt.«
Als würde etwas in mir platzen, schrie ich los:
»Verarsch mich nur. Kaum wirst du ein Mann, wirst du so ein Scheißmann, wie ich sie alle alle bis da her hab.«
Ich stand auf, und mit der Ferse schmiss ich den Sessel um. An der Tür stieß ich mit Mutter zusammen. Sie wich alsogleich zurück.
»Da hast du deinen Stefan. Stefan hin, Stefan her, ja lieber Steff, na sicher, mein Liebling, mein Burschilein.«
Ich unterbrach mich, denn Mutter senkte den Kopf, zog
die Schultern hoch und stand so da. Ich fasste sie um die herunterhängenden Arme und begann sie an mich zu drücken. Dann gingen wir beide zurück und umstanden nun den auf dem Bett sitzenden Menschen, der langsam sein Kinn in die linke Handfläche schob und zu meiner Mutter hinblinzelte. Ich musste lächeln, fuhr ihm über die Locken.
»Geh, du.«
Schließlich machte ich Kaffee und wickelte den mitgebrachten Kuchen aus, wir saßen um den Tisch, bis Karel kam.
Karl fuhr unverzüglich nach der Probe in die Schleifmühlgasse. Nun saß er auch beim Tisch, streuselte sich die Kuchenreste in den Mund und war anscheinend gar nicht so schlecht gelaunt. Mutter erkundigte sich nach Dauendin, denn den verehrte sie so, aber Karel wollte sich über die anderen offenbar nicht äußern.
»Er ist okay«, sagte er gerade noch zu Mutter. »Ich bin ja schon sehr zu spät gekommen, aber Astrid kam noch später daher. Mit mir hat der Schönn geschrien, die Astrid hat er auf den Mund geküsst. Dann gings aber ganz gut.«
»Du magst die von Gehlen nicht?«, fragte Mutter.
»Kocht auch nur mit Wasser. Gibts ein Bier, bitte?«
»Freilich«, sagte ich und erhob mich. »Du auch?«
»Und ob«, sagte Stefan. Als alle ihr Getränk hatten, legte sich ein eigenartiges Schweigen auf uns. Die Blicke flogen wohl so rum, dauernd schaute irgendwer irgendwen an, aber daraus folgte nichts. Schließlich rülpste Karel leise, und er sah meinem Bruder aufmerksam ins Gesicht.
»Was ist«, fragte der.
»Hast ihn ausgehalten, meinen Alten?«
»Der war nett.«
»Nett?«
»Ziemlich. Er hat ja ganz schön Grausliches erlebt.«
»Aha. War dir fad dabei?«
»Wieso fad? Er hat ruhig erzählt, was er so gesehen und nicht vergessen hat.«
Karl schaute her zu mir. Seine Mundwinkel begannen etwas zu zucken.
»Das macht er sehr gut«, sagte er zu mir hin. »Er ist die Ruhe selbst, während um ihn die Skelette nur so herumpurzeln.«
»Und wie war das für dich?«, fragte ich Stefan.
»Naja. Ich mein, was er erzählt hat, das war schon sehr unangenehm.«
»Unangenehm«, lachte Karl.
Mutter stand auf und wollte irgendwas vom Tisch abräumen, es war aber nichts da, was nicht noch gebraucht wurde. Also setzte sie sich wieder.
»Das muss alles schrecklich gewesen sein«, murmelte sie.
»Es wird Zeit, dass wir anderen ihn auch kennenlernen«, sagte ich rasch.
»Vor allem du«, sagte Mutter leise. Karl stand auf.
»Kein Grund zum Saufen bis zur Bewusstlosigkeit«, sagte er grinsend zu Stefan. »Warte überhaupt mit der Sauferei noch ein bissel. Gehen wir?«
Ich zuckte die Achseln, ließ alles, so wie es war, in der Kindheitswohnung zurück, verließ mit meinem Liebsten die Schleifmühle, stieg mit ihm in den Honda Jazz, fuhr heim in die
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