Der Kalte
verknäulen begannen. Bevor es aber zu
Handgreiflichkeiten kommen konnte, war auch Polizei in beträchtlicher Stärke erschienen. Boaz Samueli bestieg den Kleinlaster, stellte knapp die Gruppe Club Diderot – Anderes Österreich vor, tätschelte dem Pferd den Holzhals und erläuterte der Menge, dass es sich hier um ein Trojanisches Pferd handle.
»In seinem Bauch trägt es all das Vergangene, Barbarische. Will es hereinschmuggeln in die Gegenwart der jungen österreichischen Demokratie. Dieses Pferderl war ohne Reitersmann bei der SA . Ein herrenloses Ross. Es hat dort seine Pflicht erfüllt. Sein Reiter allerdings war frisch verliebt bei seiner Frau in Wien und sonst als einfacher Wehrmachtssoldat an der Front fern von seinem Pferd. Aber auch er hat seine Pflicht erfüllt. Nun ist das Pferd hier, sein Reiter ist schon wieder woanders, und zwar diesmal wahr und wahrhaftig. Er wird soeben im Parlament unter den Augen der demokratischen Öffentlichkeit zum Präsidenten angelobt.«
»Pfui«, schrie es aus der Menge, und »Kusch, bleder Bua« rief einer zu Samueli herauf. Boaz schaute, während er weitersprach, freundlich und treuherzig auf die Leute hinunter:
»Es ist eben ein Trojanisches Pferd. Auch sein Reiter ist einer, der mit seinen Lügen, dem Verschweigen seiner tatsächlichen Tätigkeit bei einem mörderischen Angriffskrieg, Konterbande in unsere Republik einschmuggelt. Er vergiftet unser Klima, er repräsentiert nun an oberster Stelle das Erbärmlichste an der Rolle Österreichs und seiner Bürger in der Nazizeit.«
»Kusch, bleder Bua«, rief derselbe Mann wieder herauf.
»Nein, das Andere Österreich kuscht dazu nicht mehr. Im Gegenteil, es steht auf gegen diesen Bundespräsidenten und will, dass aufgeklärt wird, was er damals getan und gewusst
hat. Es muss überhaupt aufgeräumt werden in dieser Republik mit dem Nazigedankengut. Es muss Schluss sein mit der Verherrlichung von solcher Pflichterfüllung, die eben darin bestand, andere Länder zu überfallen. Im Namen von Führer und Reich Andersdenkende zu massakrieren. Menschen wegen ihrer bloßen Herkunft, aus sogenannten rassischen Gründen zu vergasen. Riesige Landstriche in verbrannte Erde zu verwandeln. Eine Pflichterfüllung schließlich, sich selbst und seinem Land Tod und Verderben zu bringen. Dieses Pflichtbewusstsein steckt nach wie vor in den Knochen des Herrn Doktor Wais, es gliedert sein Rückgrat, und es ist hier drin.«
Samueli klopfte dem Ross gegen den Bauch.
»Und mit seinen stinkenden, braunen Rossknödeln sollen wir jetzt leben?«
»Pfui Teufel«, schrie jemand. Etliche applaudierten.
Nach Samueli bestieg Herbert Krieglach den Kleinlaster. Er erläuterte in derben und barschen Worten, was dieses Pferd symbolisierte. Weil während seiner Ansprache die Auseinandersetzungen in der Menge zunahmen, begann Krieglach zu brüllen. Dabei übermannte ihn ein Zusatzzorn, sein Gesicht wurde rot, und eine Stirnader sprang hervor. Schon wollte er mit einer »Ihr seids doch alle solche Oaschlöcher«-Rede beginnen, ein Schimpfwerk, mit dem er schon bei nichtigeren Gelegenheiten geprunkt hatte, da gelang es Samueli mit beschwichtigendem Zupfen an Krieglachs Ärmel, dass der Bildhauer davon absah. Stattdessen schnaufte und hustete er ins Publikum und rief schließlich: »Das demokratische und antifaschistische Österreich ist quietschlebendig, merkt euch das!«
Als Letzter kam der Dramatiker Tonio Gaspari an die Reihe. Er besah sich seelenruhig die Menge, zog ein großes Taschentuch aus dem Hosensack und schnäuzte sich. In die
anhebende Heiterkeit der unten Herumstehenden begann er konzentriert hineinzusprechen:
»Wir sind nicht da auf Geheiß des World Jewish Congress …«
»Doch«, schrie einer herauf.
»Wir sind weder seine Agenten noch sein Sprachrohr. Wir sind auch keine vaterlandslosen Gesellen und Antidemokraten, als die uns der Generalsekretär der Österreichischen Volkspartei, Helmut Kominek, heute im Radio bezeichnete. Wir sind hier, weil wir eine der wichtigsten menschlichen Eigenschaften hochhalten wollen, die Fähigkeit, sich zu erinnern. Wir sind hier, weil wir Herrn Wais, der zur Stunde unser aller Bundespräsident wird, zu dieser Fähigkeit verhelfen wollen. Wir wollen ihn daran erinnern, dass er Präsident einer Republik wird, die nur wiedererstehen konnte, weil es im Unterschied zu ihm Menschen gab, die ihre Pflicht gegenüber dem Hitlerregime nicht erfüllt haben. Wir möchten Herrn Wais daran erinnern, dass dieses
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