Der Kalte
Pferd, das unser Freund Krieglach und ich hier aufgestellt haben, noch immer seinen Reiter sucht. Wir werden dieses Pferd zu allen öffentlichen Auftritten des Herrn Wais führen. Es soll ihn daran erinnern, dass man seine Vergangenheit nicht durch Lüge und Verdrängung loswerden kann.«
»Doch«, rief derselbe wieder herauf.
»Wir planen ab Herbst«, fuhr Gaspari fort, nachdem er dem Zwischenrufer ein grämliches Lächeln geschenkt hatte, »eine ganze Reihe von Aktionen, die dem Zweck dienen, das Erinnerungsvermögen des Herrn Wais zu fördern. Wir fordern die Beamten in der Hoheitsverwaltung, ja wir fordern alle Lehrer auf, in den Klassenzimmern und Amtsstuben das Bild des neuen Bundespräsidenten verkehrt herum aufzuhängen. Bekanntlich hebt eine rasche Blutzufuhr zum Kopf das Erinnerungsvermögen.«
Gaspari hörte dem zögernd einsetzenden, etwas schütteren Beifall zu, nickte zu Samueli hinüber und stieg vom Laster.
»Ab nach Israel mit Gaspari«, sagte ein Mann lächelnd zu den Umstehenden, nahm seinen kleinen grünen Hut vom Kopf und wischte sich mit der anderen Hand den Schweiß von der Stirn.
Hundert Meter davon entfernt verließ Rosa Fraul die Buchhandlung Sillinger am Graben, um ein Buch von der Auslieferung in der Seilerstätte abzuholen. Ein Kunde brauchte es sofort, und so machte sie sich auf den Weg, anstatt ihn auf den nächsten Tag zu verweisen. Sie geriet mitten in die Auseinandersetzungen auf dem Stephansplatz, bemerkte anfänglich gar nicht, wo sie ging und stand. Denn ihre Gedanken waren, wie in letzter Zeit wieder verstärkt, ameisengleich in ihrem Kopf herumgewimmelt, hatten klare Gedanken angesäuert und in Bestandteile zerlegt, die nun wieder zueinanderfinden wollten. Sie kam nicht weiter, stand neben einem hageren hohlwangigen Herrn, der eben »Kusch, bleder Bua« oder Ähnliches herausbrüllte. Sie wich zurück, wollte sich aus der Menschenmenge, in die sie hineingeraten war, herauslösen, in Richtung der Ecke, an welcher der Stock im Eisen angebracht war, retirieren, um dann zur Singerstraße zu gelangen, weg von den Unruhen. Sie vernahm jedoch plötzlich, dass ein Herr mit Steirerhut und blitzenden Augen zu einem jungen Mann, der Flugblätter in der Hand hielt, hinschrie:
»Wozu machst du das? Glaubst, die Juden brauchen dich? Die wissen sich schon selber zu helfen. Die benötigen solche wie dich, freilich! So ein Idiot. Die haben doch eh alle auf ihrer Seite. Die brauchen euch doch nicht.«
»Wie meinen Sie denn das?«, fragte eine Frau. »Welche Juden?«
»Die Juden wollen den Wais nicht, das versteh ich ja, aber warum hilfst du denen? Bist vielleicht auch einer?«
Er wandte sich an die Danebenstehenden, blickte dabei zufällig der Rosa ins Gesicht.
»Heutzutage kannst ja in Österreich nichts mehr werden, wennst kein Jud bist. Großartig, netwaa?«
»Der Wais ist kein Jude und soeben unser Bundespräsident geworden. Leider«, sagte der junge Mann.
»Eben, du Trottel. Deswegen sind die Hebräer gegen ihn. Was geht das dich an?«
»Seien Sie still«, sagte Rosa. »Sind wir schon wieder so weit?«
»Da schauts her. Da ist ja eine. Dieses Gesicht. Das sieht man sofort. Merkst du das, Burscherl? Die kommen eh selber hierher. Die brauchen dich nicht. Du bist doch ein Österreicher. Geh heim.«
»Sie stehen doch auch da«, sagte der junge Mann.
»Sie mit Ihren Nazireden«, mischte sich ein älterer Passant mit dicker Hornbrille ein. »Sie haben nichts gelernt aus der Geschichte. Un-be-lehr-bar.«
»Soso«, höhnte der Mann, »was sollen wir denn lernen, Sie Obergscheiter, hä? Dass man heutzutage nichts mehr wird, wenn man kein Jud ist? Solche wie Sie sind schuld daran, dass wir zu Sklaven werden. Kein Wunder, dass ihr den Wais erschießen wollts.«
»Wer will denn den Wais erschießen? Das ist unerhört.« Das Stimmengeknäuel wurde lauter und verwickelte immer mehr Passanten ineinander, es kam zu Rempeleien, Polizisten gingen dazwischen, begannen die Diskutierenden und Brüllenden nach irgendwelchen Mustern voneinander zu trennen. Rosa hatte sich umgedreht und war in die Singerstraße hineingegangen. Sie holte das Buch, mied am Rückweg den Stephansplatz, kehrte über die
Weihburggasse, den Neuen Markt, die Plankengasse und Bräunerstraße zur Buchhandlung Sillinger zurück, gab das Buch ab, schloss die kleine grüne Tür und verblieb in ihrem Zimmer. Sie setzte ihre Arbeit fort und beruhigte sich dabei. Morgen fährt Karel also doch mit Astrid von Gehlen nach
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