Der Kalte
lernt Iwrit, ihr Vater hat einen Bauauftrag in den besetzten Gebieten gekriegt und will dort nicht bauen. Sie schreibt, ob ich zu Weihnachten nach Jerusalem kommen möchte. Ihre Eltern hätten nichts dagegen.
Jetzt hab ich ihr geschrieben, dass ich mich am liebsten wie Käptn Kirk zu ihr beamen möchte, denn ich halts nicht aus vor Sehnsucht. Von Helen hab ich nix mehr gesagt. Die ist ja sehr lieb, aber sie ist eben nicht die Dolly. Werde mit Mutter reden, sie soll mich fliegen lassen. Aber wieso Weihnachten? Haben die dort überhaupt Weihnachten? Na ja, in Jerusalem gibts eh jede Menge verschiedene Religionen, da wirds auch Weihnachten geben. Jesus ist ja auch dort geboren beziehungsweise gestorben.
28. 9.
Mutter sagt, ohne Begleitung lässt sie mich nicht in den Nahen Osten. Sie will aber nicht, und ich will ja auch nicht, dass sie in Jerusalem hinter uns her rennt. Ich könnte den Guido fragen, ob er zufällig nach Israel will.
29. 9.
Noch ein Brief von Dolores, ziemlich lang. Sie liebt mich, sie liebt mich. Ich hau mich aufs Bett und beim Lesen: …
Hab mit Messerschmidt telefoniert. Er wird schauen, was sich machen lässt. Er ist sehr lässig. Er taugt mir. Der wäre der Richtige gewesen für meine arme Schwester. Der hätte sie ausgehalten. In der Liebe war die Margit vielleicht nicht so ohne. Und der Guido liebt sie jetzt auch noch. Das hätt sie gebraucht und nicht so einen Schweinskerl.
Nach der Vorstellung lud Guido Messerschmidt die drei in sein Auto. Erst brachte er Renate Keyntz heim. Überraschend stieg auch Inge Haller aus. Er fuhr Stefan heim, sie redeten über das Stück, das dem jungen Keyntz anscheinend nicht so gefallen hatte. In der Hardtgasse stieg Stefan aus, sagte durchs Fenster:
»Ich werde das Stück lesen. Hältst du mich für einen Banausen?«
»Gar nicht. Ist dir aufgefallen, dass Karl Fraul zu uns her gespielt hat? Zu dir?«
»Nein. Warum sollte der zu mir her spielen?«
»Gute Nacht, Stefan.« Stefan nickte und sperrte sein Haustor auf.
In der Schleifmühlgasse stand Renate Keyntz mit Inge Haller vor dem Haustor.
»Kommen Sie noch auf ein Sprüngerl mit hinauf, Frau Doktor? Auf ein Gläschen?«
Es wurde spät. Sie tranken und weinten.
10.
Apolloner hatte einige Tage Urlaub genommen und war in Bozen gewesen. Mit seinem Vater schien es zu Ende zu gehen. Der war geschrumpft, klapprig und zittrig, vertrug keinen Alkohol mehr, sah seinen Sohn mit gelben Augen an und wollte ihm doch noch erklären, was wann wie und wieso gelaufen ist, doch jedes Mal am späten Nachmittag, wenn er lebhaft wurde, verwirrte sich sein Geist, und Roman konnte in dem Redeschwall des Vierundsiebzigjährigen keinen sinnstiftenden Zusammenhang erkennen. Morgens aber war der Vater apathisch, als hätte ihn sein Schlafmodus zusätzlich ausgelaugt.
Apolloner fuhr nach Wien zurück. Als er den Brenner hinter sich gelassen hatte, beschlich ihn das Gefühl, das Leben seines Vaters endgültig abgetan zu haben.
In der Redaktion räumte er seinen Schreibtisch auf, versenkte sich dabei in Papiere, die Berichte und Einschätzungen enthielten, welche obsolet geworden waren. Er saß gleichsam mit Schreibtisch, Schreibmaschine, Ablage und Ordnern in einem schnell fahrenden Gefährt und brauste auf Nebelbänke zu. Die werden sich schon lichten, dachte er, wenn ich meine Scheinwerfer drauf richte. Oder im Gegenteil, es wird mich blenden, nix werd ich begreifen.
Roman hatte sehr wohl bemerkt, dass er, ohne es zu wollen, in den Hintergrund geraten war. Vor einem Jahr war er einer der Ersten, der damit anfing, die sogenannte unbewältigte Vergangenheit auf ihre Gegenwärtigkeit zu unter
suchen. Sein erstes Gespräch mit Fraul sowie die sich daraus entwickelnde Interviewserie stießen in der medialen Öffentlichkeit etwas an, brachten etwas weiter, auch wenn noch nicht klar war, wohin das führte. Die Kandidatur von Johann Wais kam wie gerufen. Apolloner fühlte sich bestätigt, er war sicher, dass es gut für ihn und das Land war, dass er zur Zeitgeschichte gewechselt hatte. Allmählich steckte er Judith Zischka damit an; sie verband ihre Literatur- und Theaterthemen mehr und mehr mit dem zeitgeschichtlichen Untergrund, aus dem nunmehr die Sumpfdotterblumen zwischen Unkraut wuchsen und spezifische Auren machten. Diese Auren interessierten sie, sie fand in Schönns Burgtheater einen regelrechten Aurenverwerter und Aurenverstärker; so umschlich sie sein Haus, knüpfte, wie es sich gehörte,
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