Der Kalte
erwachte.
»Frühstück?«
»Ja. Bist du zurück?«
Rosa antwortete nicht, sondern ging in die Küche, befüllte die Kaffeemaschine und stellte sie auf den Gasherd.
19.
Als hätte Raimund Muthesius etwas gewittert, rief er nach längerer Pause Dietger Schönn im Büro an. Mit monotoner und gelangweilter Stimme teilte er »seinem Direktor« mit, es sei nun fertiggestellt, das halb bestellte, halb ihm aus tiefster Seele entkrochene Theaterstück. Ein widerliches Zeug über dieses widerliche Land. Es käme zum sogenannten Bedenkjahr zurecht, übrigens eine lächerliche Bezeichnung für die Hirnarbeit von Hohlköpfen, aus denen sich die alpenländische Politkaste seit je rekrutierte. Seit ihm ein Unterrichtsminister habe ausrichten lassen, er, Muthesius, gehöre zum Psychiater und nicht zum Schönn, seine Texte erleichterten die Psychiatrisierung seiner Person, auf der Bühne hätten sie nichts verloren, seither glückte ihm die Überzeichnung der österreichischen Seele auf besondere Weise. In einen Prozess mit einem ehemaligen Freund verstrickt, der sogar versucht hatte, einen seiner Romane
beschlagnahmen zu lassen, zeitweilig alleingelassen von seiner Haushälterin Martha, weil die sich erdreistet hatte, Knoten in der Brust zu ertasten und sich nunmehr in Vöcklabruck einer Chemotherapie unterzog, fetzte er das Stück auf dem Küchentisch unter dem Serpentinkruzifix herunter. Nachdem er es in zwei Vormittagen hingeworfen hatte, ließ er es in der Kommode, zweite Schublade von oben, ablagern. Nach zweiundsiebzig Stunden begann er bereits zu befürchten, das Zeug hebe an zu schimmeln. Es kam ihm vor, dass die Underwoodbuchstaben als Kakerlaken in seinen letzten Traum hereingekrabbelt waren. Er zog das Manuskript aus der Schublade heraus, rollte es zusammen, steckte es sich hinten in die Hose, zog den Alpenjanker drüber und trug es den Attersee entlang. Im Café Central las er es mit aufgeworfenen Lippen durch, verhohlen vom Wirt und einigen Gästen beobachtet. Er aß zu Mittag, fuhr nach Vöcklabruck und holte Martha vom Krankenhaus ab, chauffierte sie schweigend heim. Sie hatte ein Kopftuch um, unter dem Muthesius die Chemoglatze vermutete. Die Haushälterin ließ sich nichts anmerken, sie setzte ihre Hausarbeit dort fort, wo sie sie vor zwei Wochen unterbrechen hatte müssen.
»Ist ja gut«, sagte er, als sie sich alle Augenblick heftig schnäuzte. »Wird wieder.«
Er nahm das Lineal und begann das Stück Zeile für Zeile zu »beschlechtachten«, wie er diese Tätigkeit zu nennen pflegte. »Wie aus einem Guss«, sagte er zu Martha.
»Wie aus einem Guss«, begrüßte er Dietger Schönn, umarmte ihn und klopfte ihm beide Schultern ab, als hätte dieser soeben das Stück beendet. Ohne den Titel des Stückes zu nennen, las er es ihm im Erkerzimmer vor, während Schönn durch ein Fenster zusah, wie die Abenddämmerung allmählich den See aufaß.
»Kolossal«, sagte Schönn. »Kolomassiv. Backpfeifen in einem fort. Maulschellen der Aufklärung.«
»Kam wie aus einem Guss«, wiederholte Muthesius. »Aus einem Alb.«
»Friedenszeit«, sagte Schönn langsam. »Guter Titel.«
»Das Stück heißt aber nicht so. Im Gegenteil: Vom Balkon.«
»Vom Balkon?« Schönn blickte ratlos.
»Wusstest du nicht, dass die Hofburg einen Balkon hat, von welchem der GRÖFAZ zur Menschenmenge auf den Heldenplatz hinunterbellte?«
»Ach nee. Ach ja? Der Balkon spielt aber gar nicht mit.«
»Aber der Platz spielt mit, in den er hineinspringt.«
»Vom Balkon«, murmelte Schönn. »Klingt nach gar nichts.«
»Darüber verhandle ich nicht. Wann wird es gemacht?«
»Nächstes Jahr Herbst.«
»Haben wir nicht gesagt Frühjahr?«
»Herbst. Raimund. Darüber verhandle ich nicht.«
»Na schön, Schönn.« Muthesius malte sich seine kleine Süffisanz ins Gesicht.
»Die Rolle der Geigerin Alberta?«
»Lass mir etwas Zeit. Hast du Vorgaben an die Besetzung?«
»Naturgemäß. Alberta ist die von Gehlen.«
»Astrid von Gehlen ist zu jung.«
»Das ist nicht mein Problem.«
Sie tranken noch eine Flasche Wein, während Martha dem Burgtheaterdirektor im Gästezimmer das Nachtlager bereitete und sich danach hinlegte.
(Aus dem Tagebuch des jungen Keyntz)
31. 3. 1987
Jetzt habe ich doch durchgesetzt, dass ich Ostern nach Israel zu Dolores fahren kann. Mutter hatte sich mit Händ und Füß gewehrt. Mit achtzehn kann ich doch nicht mutterseelenallein in ein halbes Kriegsland fahren. Doch Guido und die Doktor Haller haben sich für mich
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