Der Kalte
auf ihn und seinen Kameraden Wilhelm Emmerich gestürzt und dem das Gesicht zerkratzt. Es musste Verstärkung herbeigeholt werden. Doch was sie dann zu Stark gesagt hat, das habe ich nicht erfahren, obwohl der Vorfall lang Gesprächsstoff war bei uns.«
»Auf Wesolowski war Verlass. Lina Sternfeld hatte gesagt, was zu sagen war.«
18.
Wie es Karl Fraul auch anstellte, der Benjamin Ruben blieb ihm äußerlich, leckte gleichsam seine Wangen, kratzte ihn in den Achseln, zog ihm das Gesicht auseinander und zusammen, heiserte einerseits seine Stimme ein, machte sie andererseits schrill. Oder Benjamin rollte sich in ihm zusammen wie ein verfetteter Kater und schlief und schnurrte. Zur Überraschung aller nahm Peter Adel diese Seinsweisen als Angebot. Er schwieg sich aus, wenn Fraul Vesely an der falschen Stelle anstarrte, wegging, statt zornig vor ihm zu stehen. Vesely erfasste Adels Plan und spielte den Salomon, als sei er allein auf der Bühne. Auf diese Art wuchs sich Frauls Rolle zu einem einzigartigen Fremdkörper im Ensemble der Juden aus. Astrid von Gehlen versuchte in den raren Szenen, die sie mit Karl hatte, ihn in jenen Verzweiflungsdiskurs zu verstricken, der im Text stand. Das waren die einzigen Szenen, die ohne Witz und Wortspiele auskamen und unmittelbar von tiefer Traurigkeit durchdrungen waren. Ihr Zusammenspiel, das in der Phädra sensationell war, erwies sich hier von Probe zu Probe als immer krasseres Auseinanderlaufen, sodass die Dialoge sich wie windschiefe Gespräche anhörten, die eher von Karl Valentin hätten stammen können als von Zoltán Nemecsek. Der Gesamteindruck aus Verzweiflung und Aneinander-Vorbei-Reden brachte Peter Adel dazu, sich in seinem Sessel unten auf die Schenkel zu schlagen und unentwegt zur Bühne hinaufzukichern. Während Karel dieses Gelächter über sich ergehen ließ, als wäre es gar nicht hörbar, biss Astrid die Zähne zusammen, sodass ihre Sätze, die sich jeweils zwischen den kurzen schnellen Bissen aus dem Mund schraubten, ein Pathos bekamen, das der ausweglosen Szene einen Hall zusetzte, der nicht ohne Schaurig
keit war. Rüdiger Scherfele war anfangs bemüht, immer wieder eine Engführung der auseinanderlaufenden Darstellungsarten zu arrangieren, wurde aber von Adel gestoppt. So gingen zwei Probenwochen hin.
Astrid suchte das Gespräch mit Felix, bat ihn sogar, bei einer der Proben dabei zu sein, denn sie hatte das Gefühl, nicht sie werde der Rolle nicht gerecht, sondern die Rolle genüge nicht, um auszudrücken, was eine jüdische Tragödie ist. Dauendin hörte ihr zerstreut zu, ging mit ihr mit, sagte ihr nachher, es sei doch alles zufriedenstellend, der blöde Fraul provoziere sie nachgerade, ihre Sätze zu verschnörkseln, aber das scheine ohnedies zu passen, ihm gefiele es, wenn das Katastrophale sich dem Absurden anverwandelt. Wenn die beiden Juden Nemecsek und Adel den Holocaust als Absurdität zeigen, dann dürfen sie das. Wer, wenn nicht sie? Astrid warf zwar ein, dass es sich bei jenen Szenen längst noch nicht um den Holocaust handelte, sondern um den Weg dorthin, doch Felix erwiderte, das mache keinen Unterschied. Beim nächsten gemeinsamen Frühstück griff Astrid die Idee wieder auf, wollte genauer wissen, weshalb Dauendin glaube, der Weg zur Shoa sei praktisch schon die Shoa selbst. Felix hatte keine Lust auf so ein Gespräch, wich daher aus und rief bei ihr einen Wutanfall hervor. Sie schrie herum, lief hin und her und merkte nicht, dass Felix den Raum verlassen hatte. Sie verstummte, wollte ihm nachgehen, hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel, überlegte, ob sie ihm hinterherbrüllen sollte; stattdessen wischte sie mit einer Armbewegung das Frühstück vom Tisch und ging ins Badezimmer.
Wenn Karel und Astrid in der Phädra auftraten, war von all dem nichts zu bemerken. Karl spielte den Hippolyt wie immer. Es schien so, als könnte er in diese Rolle flüch
ten, um in ihr sich als Schauspieler und Menschengestalter zu erleben. Nach derartigen Vorstellungen ging es ihm schlecht, er verblieb im Wirtshaus und soff sich nieder.
Um drei Uhr morgens fuhr Karl Fraul aus einem seiner unerquicklichen Träume hoch. Nahe war das Gesicht seines Vaters über ihn gebeugt, er betrachtete ungewollt den grünen Rand von dessen Pupille, und ein Eishauch legte sich auf seine verschwitzte Stirn.
»Papa, verschwind«, murmelte er. Edmund richtete sich auf, schüttelte den Kopf, und im Geschüttel entschwand er. Karl setzte sich auf, versuchte seine
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