Der Kalte
zu ihrem Tisch. Ich setzte mich nieder, schob das Dossier zur Seite. Wenn ich sie auch befrage? Wie geht es der Frau eines Widerstandskämpfers? Wie lebt jemand wie sie? Der Karl wird sich verfolgt fühlen von mir, aber juckt mich das? Indes die beiden wiederum aufeinander einzureden begannen, versenkte ich mich ins Schriftstück vor mir, in Gedanken bei den Diplomaten und Kämpfern, bei der Art, wie Geschichte zugeschüttet, und bei der Weise, wie sie wieder aufgerissen wird. Dass diese Art und Weise bald das Land erschüttern wird, wusste ich nicht.
Rosa betrachtete ihren Sohn. Sein schönes Gesicht schimmerte durch die Rauchschwaden des Kaffeehauses, es wirkte auf sie sehr rein und daher wie außer der Welt. Seine dunklen Augen fanden in Rosas Antlitz einen flüchtigen Ruheplatz, blickten hinein wie in einen Spiegel, denn es schien, als betrachtete sich Karl bei jedem Wort, das er zu ihr hin sprach. Doch dies beglückte seine Mutter. Er geht seinen Weg, dachte sie, er hat die Entschlossenheit seines Vaters, seine Zielstrebigkeit. Woher er das musische Talent hatte, mochte sie sich nicht eingestehen.
Karl erzählte, wie schon beim letzten Treffen, von den Proben zu Macbeth. Er ging dabei durchaus in die Details, so
dass Rosa sich schnell mitten in Schönns Inszenierung befand. Nach einer halben Stunde aber musste sie den Ober rufen, um zu zahlen. Sie umarmte Karel und ging zurück zur U-Bahn. Karl hatte dieses Mal kein Wort über Edmund verloren. Auf dem Weg durch die Postgasse überfiel sie Angst, aber nicht um ihren Sohn, sondern um ihren Mann. Sie spürte die Veränderungen der letzten Zeit. Es kam ihr vor, dass Edmunds Bewegungen etwas Automatisches und Eckiges bekamen. Der Tonfall der Stimme, der seit je sonor und in immer gleicher Lautstärke zu vernehmen war, wies auf einmal bei gewöhnlichen Situationen kleine Risse auf, es raute aus Edmund unmerklich heraus, unmerklich für jedermann, nicht aber für Rosa. Irgendetwas hält ihn zusammen, dachte sie, doch das kommt nicht aus seinem Inneren, und es wird ihm auch nicht von mir gegeben. Als sie den Laurenzerberg hinunterging und auf den mit sich selbst beschäftigten Schwedenplatz blickte, hatte die Angst sich in ihrem Brustkorb festgesetzt. Sie begann schnell und tief zu atmen, blieb schließlich stehen und schaute in die Auslage der Apotheke. Sie schloss danach die Augen und stellte sich Edmunds Gesicht vor, wie es mit einem leisen Lächeln gegen die Stürme des Daseins standhielt. Sie zog seine Augen ganz nah zu sich heran. Die Angst zerrann ihr, das Wasser stieg hoch und quoll über. Sie wischte sich die Tränen mit bloßer Hand gegen ihre Ohren fort. Hernach holte sie sich ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Mit schnellen Trippelschritten ging sie zur U-Bahn.
17.
Ich wusste nicht, was ich von all dem halten sollte. Ich war in der Schleifmühle bei meiner sich immer mehr duckenden Mama und bei Bruder Stefan, stierlte in meinen alten Sachen herum, die dort noch immer in meinem Kindheitszimmerkasten gestapelt lagen, um einen türkisen Pullover zu finden, den ich im letzten Traum angehabt hatte. Von dem Traum ist mir in der Erinnerung nichts geblieben außer eben der Pullover um meine Brust und das Messingschild auf einer weißen Tür: Dr. med. Margit Keyntz. Die Tür ging im Wind auf und zu, und davor standen Patienten und sangen: In einem Bächlein helle . Mehr gabs nicht mehr von diesem Nachtmahr, aber am nächsten Tag wollte ich mir aus der Schleifmühle den Pullover holen und stand nun vor dem Kindheitskasten und wühlte in den Sachen. Mutter war im Türstock stehen geblieben und beobachtete mein hektisches Treiben. Ich konnte ihn nicht finden, schließlich schmiss und riss ich sämtliche Kleidungsstücke aus dem Kasten heraus und häufelte sie auf den Fußboden. Mutter schüttelte den Kopf und sagte: »Hast du den türkisenen nicht mit anderen alten Sachen vor Zeiten zum Würfel gegeben oder zur Caritas?«
»Das stimmt, verdammt.« Ich richtete mich auf, betrachtete den Kleiderhaufen. »Du kannst das da auch zur Caritas geben.«
»Hast du heute keinen Dienst?«
»Nein, Mama, sonst wäre ich doch nicht da.«
»Schon gut, Margit.«
Ich ging an ihr vorbei ins Vorzimmer und sagte: »Du immer mit deinen ständigen Fragen.«
»Schon gut.«
»Ciao.« Ich verließ die Wohnung und stand unentschieden
vorm Haus. Es war ein klarer, später Novembertag. Ich beschloss hernach, wie schon öfters, ohne mich anzukündigen, zu Karl in die
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