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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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Sessel fallen, schenkte sich Wein ein. »Guter Strich.« Er rülpste. »Ist dir das entgangen, Rüdiger?«
    Scherfele zuckte die Achseln: »Dem Dietger entgeht nichts, was bremsen könnte, das wisst ihr doch. Ich habe das retardierende Moment oft zu lieb. Also weiter im Text.«
    Und so diskutierten sie am Vorabend, aber weniger als üblich, denn Fraul schien mit einem Mal gedankenverloren, und das bewirkte, dass er die Ausdeutungen des Dramaturgen hinnahm und in diesem Sinne sich den Malcolm aufzubauen begann für die morgige Probe.
    16.
    Unmerklich hatte sich das Zusammenleben des Ehepaars Fraul zu ändern begonnen. Jahrzehnte waren die beiden eingesponnen und verpuppt in ihre Verbundenheit. Alle Bewegungen, auch die vom anderen unabhängigen, wirkten wie abgestimmt aufeinander, die Ehe war bei Tag ein ruhig vor sich hin schnurrendes Spindelwerk. In den Nächten allerdings stand es still, und nun wurde doch ruchbar, dass zwei Einzelne in ihrer jeweiligen Schlafzelle isoliert und auf sich zurückgeworfen waren. All das jeweils Vergangene schaffte sich Raum in ihnen und pendelte ihre Nächte aus. Die unterschiedlichen Tätigkeiten der beiden untertags schienen diese Abgestimmtheit aufeinander noch zu verstärken. Edmund Fraul war nicht bloß in den Schulen tätig und breitete dort den Holocaustteppich aus, freundlich im Ton, nah an den vermittelbaren Dingen. Die wichtigsten Sachverhalte ließen sich allerdings ohnehin durch nichts vermitteln. Was Auschwitz war, weiß nur der Auschwitzer. Er arbeitete auch eng mit der Ludwigsburger
Zentralstelle zusammen, die sich seit ihrer Gründung um die Nach- und Ausforschung von NS -Tätern kümmerte. So konnte der seelenruhig in Stuttgart-Zuffenhausen unter seinem richtigen Namen lebende Wilhelm Boger verhaftet werden. Fraul war maßgeblich in die Vorarbeiten zum Frankfurter Auschwitzprozess eingebunden. Immer wieder reiste er auch nach Israel, in die USA und nach Südamerika, um dort etwaige Zeugen auf ihre Aussagetauglichkeit zu prüfen. Besonders nach den Umtrieben der Verteidiger in Frankfurt, die es darauf anzulegen für nötig erachteten, die ehemaligen Häftlinge zu verunsichern, lügenhafter oder defekter Aussagen zu überführen, war Fraul darauf bedacht, die Zeugen auch der späteren Prozesse zu briefen. Er empfahl ihnen, obwohl er persönlich nicht viel davon hielt, Psychotherapeuten speziell zur Vorbereitung auf Zeugenaussagen aufzusuchen, damit sie ihm nicht dann – wie öfters geschehen – im entscheidenden Moment umfielen und statt mit Aussagen als Augenzeugen mit Ohnmachtsanfällen, Weinkrämpfen und anderen Zusammenbrüchen auf die Naziangeklagten und deren Advokaten reagierten. Er selbst hatte, und das verwunderte ihn anfangs, keine Schwierigkeiten, den ehemaligen Peinigern vors Antlitz zu treten. Selbst mit Boger, dessen Schaukel Hunderte Häftlinge zu Tode gequält hatte, sprach er geschäftsmäßig, verkehrte mit anderen Angeklagten fast väterlich, besonders mit dem fast gleichaltrigen Wilhelm Rosinger. Außerdem blieb er eng in Kontakt mit David Lebensart, stand auf Geschäftsfuß mit der Israelitischen Kultusgemeinde, war im Auschwitzkomitee, sowohl im nationalen als auch früher im Vorstand des internationalen, blieb einer der maßgeblichen Verbindungsmänner zu anderen Überlebendenorganisationen, verband sich immer wieder mit den Mauthausenern und den Ravensbrückern.
Selbstverständlich übte er auch Funktionen im KZ -Verband aus, schrieb für den Mahnruf Artikel, pflegte zu Mandataren der Parteien mit Ausnahme der Freiheitlichen Partei regelmäßigen Umgang. Er war viel unterwegs, von nachhaltiger Gesundheit, unermüdlich, aber immer mit Ruhe und Gelassenheit an den Sachen dran. Daheim blieb er wortkarg und sparsam in den Bewegungen, seiner Frau zugewandt und höflich. Seinen Sohn konnte er nur dann verstehen, wenn er sich vorstellte, der sei nicht von ihm, sondern ein gewöhnlicher junger Mensch, der gar nicht wusste, aus welchem Geschichtsleichenberg er herausgewachsen war. Als Fleisch und Blut blieb Karl ihm unverständlich und ein sich wiederholendes Ärgernis. Er wusste allerdings um die Liebe Rosas zu ihrem einzigen Kind, sodass er, von gelegentlichen kleinen Bemerkungen abgesehen, gleichmütig die Existenz dieses Menschen auch in seinem Haus hinnahm. Wohl bemerkte er, dass Karel sich lange um seine Anerkennung bemühte und um ihn zu werben versuchte, doch ein offenes Ohr konnte Edmund Fraul nur denjenigen leihen, die sich ernst und

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