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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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Margaretenstraße zu fahren. Seit einigen Tagen fühlte ich mich im Inneren zum Zerreißen, ohne dass ich hätte sagen können, weshalb. Karl war freundlich und nahezu ergeben zu mir, sprach von den Proben zu Macbeth nebenbei und bloß, wenn ich ausdrücklich danach fragte. Als ich wissen wollte, ob ich mal zuschauen könne, wie bei Inszenierungen in Graz häufig, verneinte er sanft, das sei auf diesem Theater nicht Usus, und schon das glaubte ich ihm nicht.
    Im Turnus lief alles super, die Oberärztin der Zweiten Medizinischen, Doktor Inge Haller, war sehr freundlich und zuvorkommend zu mir, ich konnte mich in kurzer Zeit sehr gut zurechtfinden. Das Rudolfspital taugte mir, was hatte ich? Ich wusste nicht, was ich von mir halten sollte, mit dieser Unruhe. So stand ich vor der Tür von Karls Wohnung und wollte, ohne zu läuten, aufsperren, denn er schlief sicher noch, ich mochte was mit ihm unternehmen, vielleicht in die Lobau fahren oder einen Spaziergang am Zentralfriedhof machen mit einer Stippvisite zu Papas Grab. Ich hörte, als ich eben den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, Karls gedämpfte Stimme. Ich konnte keine Wörter verstehen und blieb vor der Tür und atmete leise. Ich vernahm Worte wie Astrid und Liebste, vergrößerte, während mir das Blut in den Kopf schoss, mit beiden Händen meine Ohrläppchen, bloß um dann eine Tür schlagen zu hören, und Stille. Ich beschloss umzukehren, ging ins Café Anzengruber und nahm eine Melange. Er schimpfte doch ständig auf die Gehlen! Hatte ich das Wort Liebste wirklich gehört? Jedenfalls rührte ich in der Melange, bis sie kalt war, und konnte mich zu keiner Handlung durchringen. Ich wollte zu ihm und zugleich einfach fort, denn ich kenne meinen
Hang zu Misstrauen, und womöglich ist doch an all dem gar nix dran. So dachte es in mir wie vermutlich in Millionen Frauen, die millionenfach immer in solchen Lagen stecken. Endlich wollte ich allein zum Zentralfriedhof fahren. Heute war der vierzehnte November, der fünfte Todestag von Papa, und ein schöner Sonntag war auch. An der Tür vom Anzengruber stieß ich mit Karl zusammen.
    »Du da, Margit«, stammelte er. »Deshalb warst du weder daheim noch in der Schleifmühle. Na? Küss mich, Liebste.«
    Etwas zerriss in mir. Von unten holte ich mit dem linken Arm aus und schlug Karl die Hand kräftig ins Gesicht. Dabei rodelte die Handtasche, die ich an der linken Schulter trug, den Arm hinauf und flog an Karls Hinterkopf vorbei bei der Kaffeehaustür hinaus. Mit der Rechten wollte ich nachschlagen, kaum dass der Klatscher verklungen war, aber da hatte sie Karl bereits abgefangen, er stieß mich zurück. Ich torkelte zwei Schritte nach hinten und stürzte auf meinen Rücken. Mir wurde schwarz, und als ich wieder schauen konnte, waren Karls Gesicht und das des Kellners über mir. Seltsam, ich konnte deutlich vier der fünf Finger auf Karls Backe wahrnehmen, aber was für einen Gesichtsausdruck er hatte, das vermochte ich nicht zu sagen. Der Ober und ein mir unbekannter dicklicher Mann griffen mir unter die Arme, stellten mich auf, um mir sogleich einen Sessel in die Kniekehlen zu schieben. Im Sitzen sah ich Karl aus dem Kaffeehaus gehen und sofort mit meiner Handtasche zurückkommen. Er legte sie mir mit einer leichten Verbeugung in den Schoß, drehte ab, ging zur Theke und fragte dort, was die Frau Doktor Keyntz konsumiert habe, warf einen Schein hin, salutierte mir zu und ging.
    »Schnapserl?«, fragte mich der Kellner. Ich nickte, trank einen doppelten Obstler, der aufs Haus ging.
    Was sollte ich von all dem halten? Ich brach auf, stand vor dem Café Anzengruber, wusste nicht, ob ich in die Schleifmühle zurückgehen mochte. Aber Mama konnte ich jetzt nicht aushalten. In die Hardtgasse zurück? Ins Bett legen und mich von meinen eigenen Gedanken faschieren lassen?
    Ich ging zum Auto, saß ein wenig drin und fuhr zum Zentralfriedhof. Je näher ich kam, desto schöner wurde der Tag. Vom Himmel waren alle Wolken weggefegt, er wölbte sich mächtig, indessen ich hinterm Zweiten Tor dem Grab meines Vaters entgegenging. Neben und vor mir strömten die Massen der Nachzügler von Allerheiligen und Allerseelen. Der Buchsbaum wuchs allmählich die Schrift auf dem Grabstein zu. Ich schob einen Zweig zur Seite, als eine ältere Frau sich räusperte.
    »Verehren Sie ihn auch so?«, fragte sie. »Den Kammersänger Anton Keyntz?« Ich schaute zu ihr hin und nickte.
    »So plötzlich aus dem Leben gerissen. Mir ists, als wärs

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