Der Kalte
stiegen die beiden Männer vom Lastwagen herunter, hoben jeder einen Kübel von der Ladefläche und gossen den Inhalt auf den Misthaufen drauf. Die dem Ausgießen am nächsten stehenden Zuschauer wichen zurück. Bevor die Männer wegfuhren – das Nummernschild des Lkw war verdreckt und daher unleserlich –, warfen sie noch Flugblätter in die Menge. Darauf stand: RAUS MIT DEM SCHUFT SCHÖNN AUS ÖSTERREICH .
Dietger Schönn wurde von der Aktion informiert. Er lächelte.
»Keine Panik«, sagte er. Er rief die Polizei an und verlieh der Befürchtung Ausdruck, dass es während der Vorstellung zu Krawallen kommen könnte. Er habe gewarnt. Innerhalb einer halben Stunde standen fünf große Einsatzwagen in der inzwischen abgesperrten Teinfaltstraße. Die Sonne kam vom Westen zwischen den Wolken hervor und beglänzte die Stahlhelme der jungen Burschen. Verdutzte Passanten begannen mit den in den Einsatzwagen kauernden Polizisten zu reden, bekamen aber keine Antwort. Ein Fernsehübertragungswagen fuhr vor und begann
mit dem Oberpolizisten vor dem Theater um einen Standplatz zu feilschen. Im Theater hatte sich das Fernsehen schon Stunden vorher eingerichtet.
Als sich der Vorhang hob und Nesser mit dem Rollstuhl an die Bühnenrampe vorfuhr, begannen auf der Galerie die Tumulte, die von demonstrativen Beifallskundgebungen konterkariert wurden. Schönn hatte den Schauspielern eingebläut, unter allen Umständen weiterzuspielen.
»Kapselt euch ab, spielt die Chose vom Blatt herunter. Es kömmt darauf an«, sprach er emphatisch weiter, »das Ding durchzupusten bis ans selige Ende.«
Er veranlasste noch, dass die Technik die Führerrede lauter abspielte als geprobt, sodass sich zum Gebrüll der Muthesiusgegner das Gebell des Führers zu einer passablen Kakophonie zusammenschloss.
Ursprünglich war eine Pause geplant, aber Scherfele setzte im letzten Moment auch beim verdrossenen Nesser durch, dass durchgespielt werden müsse. Nesser drohte, er werde dann eben Richtung Publikum pinkeln, wenn er müsse, dazu würde er vom Rollstuhl aufstehen müssen. Dauendin sagte ihm, er solle tun, was er nicht lassen könne. Astrid von Gehlen dachte sich während der ersten Viertelstunde, es sei schade um ihre prächtige Rolle. Bei der Brüllerei könne man keine Nuance platzieren. In der weiteren Folge steigerte sie dementsprechend ihren Ton und brüllte sich wie die anderen durch das Stück durch.
Zehn Minuten vor Schluss – das Stück hatte sich weitgehend durchgesetzt, die Pöbeleien von Galerie und drittem Mittelrang rechts waren nur mehr vereinzelt zu vernehmen – neigte sich der in der Direktionsloge sitzende Schönn zu Muthesius und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der grinste. Ein Zuschauer Parterre links sah das und
schrie: »Die Oaschlöcher da oben lachen uns aus.« Er wollte sich an den neben ihm Sitzenden vorbeiwurschteln, wurde von Aufspringenden an den Haaren und an der Schulter festgehalten, begann Ohrfeigen und Faustschläge auszuteilen, wurde von einer zornigen jungen Frau in den Schritt getreten. Es entwickelte sich eine Rauferei, die aber am Mittelgang ein natürliches Ende nahm. Polizei, nach der gerufen wurde, war im Begriff, herunterzukommen, da hörte das Geprügel auf, es war nunmehr allerdings Schluchzen und Wimmern zu hören und Gelächter, das aufflammte und sogleich wieder erstickte.
Bei der Schlussszene war es »still im Kartong«, wie sich Schönn im Rückblick auszudrücken beliebte.
Nesser fuhr als alter Albert Kieler mit dem Rollstuhl von links zur Bühnenmitte bis zum Geländer seines Balkons, flankiert von Dauendin als Sohn Hubert und von Gehlen als Tochter Alberta. Der Balkon war in zwei Meter Höhe aufgebaut, gegenüber fuhr die Bühnentechnik den Balkon des Heldenplatzes von rechts zur Bühnenmitte. In einem gewissen Abstand verharrten die beiden Balkone.
Alberta markierte auf der Geige ein Motiv aus der Lustigen Witwe, welches von einem hinter den Kulissen platzierten Violinisten gespielt wurde. Sie legte die Geige weg und sprach:
» Ich, Albert von Kieler, grüße das gottbegnadete Pflaster von Wien. «
Astrid und Felix kippten den Rollstuhl, doch bevor Nesser tatsächlich heruntergestürzt wäre, erlosch das Licht. In die Finsternis – auch die Musik brach ab – rief die Stimme der Angela König als Haushälterin:
» Was tun S' denn, Herr Professor. Na sowas !«
Der Vorhang fiel.
Einige Sekunden, die man durchaus mit Händen festhalten konnte, war es sehr ruhig im
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