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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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«
    »Nicht den Vater nachmachen. Sprich mit deiner Stimme!«
    » Ich bereue es schon, meine Kinder, dass mich ein unerklärliches Heimweh übermannt hat. Ich habe euch gezwungen, wieder in dieses braune Land zu kommen « – dabei streifte Astrid mit ihrem Busen Nessers Nase, der wich zurück, tief in den Rollstuhl –, » wo ich einst aufgewachsen bin unter den zärtlichen Tachteln der Wiener, mit den nassen Küssen der Wienerinnen, dem JudJud der Burschenschafter … «
    » Judjud? «, fragte Dauendin.
    » Unterbrich ihn nicht «, zischte Astrid als Alberta. Dauendin als Hubert mit Pose:
    » Ich seh ihn noch, den Balkon am Heldenplatz. Ich bin acht Jahre. Er will auf den Platz hinunterspringen. Aber etwas hält ihn im Gemäuer fest. «
    Astrid: » Unterbrich mich nicht .« Scherfele rief: »Es heißt: Unterbrich ihn nicht.«
    »Entschuldige. – Unterbrich ihn nicht .«
    Dauendin: » Ein Mann steht am Balkon und brüllt .« Es entstand eine Pause. Schönn rief zu Nesser hinauf: »Nun?«
    Nesser schreckte auf. Als Albert: » Hrwww. «
    Astrid als Alberta: » Er will weiterreden. «
    Dauendin als Hubert: » Kusch. Hört! «
    Stille. Schönn schaute zu Scherfele. »Wo bleibt das Band?« 
    »Band läuft«, schrie wer. Die Führerrede ertönte.
    »Okay«, sagte Schönn. »Das Gebell abstellen. Weiter im Text.«
     
    Am Tag der Premiere von Muthesius' VOM BALKON erschien Gustav Felsbergs Artikel auf der Titelseite des Ausblicks und erregte beträchtliches Aufsehen. Felsberg brachte jene zornigen Gedanken zu Papier, die ihm in Breitenstein gekommen waren. Für besonders gelungen galt die Formulierung, dass Muthesius die Juden bellen lasse wie deutsche Schäferhunde. Boaz Samueli, der kein Freund Felsbergs war und ihn wegen seiner überzogenen proisraelischen Positionen auch öffentlich kritisiert hatte, musste sich eingestehen, dass »der Kerl diesmal recht hat«. Hirschfeld, mit dem Samueli im Café Prückel saß, gab zu bedenken, dass sich nun die Judenheit in einträchtiger Wohlfühlerei mit Moldaschl, den Josefstädter Bandlkramern und Jupp Toplitzer befinde.
    »Man kann sich die Beifallklatscher nicht aussuchen«, sagte
Samueli. »Dieser Muthesius, und ich halte viel von ihm als Schriftsteller, hat keine Ahnung von Juden. Deswegen hat sein Stück, sofern ich aus den Zitaten ersehe, einen Hauch Antisemitismus aus Ignoranz und Dummheit.«
    »Gescheite Antisemiten gibt es nicht«, sagte Hirschfeld. Er hielt inne. »Vielleicht doch.«
    »Jedenfalls«, nahm Samueli den Gesprächsfaden wieder auf, nachdem beide über die letzte Bemerkung Hirschfelds eine kleine Nachdenkpause eingelegt hatten – Samueli hatte wenigstens zehn Namen erinnert, auf welche die Bezeichnung »gescheite Antisemiten« zutraf, blöderweise waren das alles Juden –, »haben wir nicht nur den Fall Muthesius zum Ärgern. Auch Krieglachs Denkmal, gegen das dieselben Ungustln zu Felde ziehen, die sich hier beim BALKON aufpudeln, hat eine judenverachtende Komponente.«
    »Aber geh«, sagte Hirschfeld. »Du bist ja schon wie der Schorschi Gelernter. Kaum macht ein Goi den Mund auf, schon sinds Risches.«
    »Also bitte«, Samueli zündete sich eine Zigarette an, »große Monumente wird Krieglach aufstellen, riesige Blöcke gegen Krieg, gegen Faschismus im Allgemeinen, unbekannter Soldat, alle Opfer des Weltkriegs. Daneben, krötenklein, der kniende Jud, Vorstellung unserer Demütigung ohne Zusammenhang zum anderen. Das gefällt dir?«
    »Ich nehme die gute Absicht fürs Werk«, sagte Hirschfeld.
     
    In vielen Kaffeehäusern Wiens wurde an diesem zehnten Oktober der Artikel von Felsberg diskutiert. Gegen vier Uhr nachmittags erschien vor dem Burgtheater ein großer Lastwagen. Er hielt vorschriftswidrig vor dem Eingang des Theaters. Aus der Führerkabine stiegen zwei Männer in
Overalls aus, liefen nach hinten, öffneten die Ladefläche, sprangen hinauf und begannen alsogleich mit Mistgabeln dreckiges Stroh, welches mit Jauche durchsetzt war, herunterzuschmeißen. Ein Wachmann, der sich dem Vorgang anzunähern begann, besah sich die Männer. Der Chauffeur, ein kräftiger dicker Mensch mit poliertem Schädel, stand vor der Motorhaube und blickte gelassen auf den Polizisten. Der blieb stehen, kratzte sich am Hals und ging zurück.
    Menschen begannen sich anzuhäufen, umstanden den wachsenden Misthaufen und bekundeten Sympathie mit der Aktion. Einer rief: »Scheißts das Burgtheater zua!« Einige lachten, und immer mehr kamen dazu. Schließlich

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