Der Kalte
rausgeholt. Schauderhaft. Ich vergreif mich andauernd. Die Margit kriegt ja immer tolle Karten von der Direktion, ich werde mitgehen. So what.
21.
Herr Kammerlander war höflich wie immer, sehr aufmerksam, hatte Margit sofort für die Proszeniumsloge die Karten besorgt.
»Selbstverständlich, Frau Doktor Keyntz.« Er kennt sie seit der Kindheit, ist dennoch immer auf der Höhe mit den Titeln. Am liebsten hätte er zu Renate Keyntz Frau Kammersängerin gesagt, das verkniff er sich dann doch.
Margit machte sich fertig für die Oper. Es ging alles automatisch, jeder Handschuh kam ihr wie gerufen auf die Hand, die Pumps erwarteten sie. Sonst stand sie ganze Stunden vor der Garderobe, doch seit einigen Tagen regelten unbekannte Mächte den Tagesablauf ohne ihr Zutun. Im Spital, dachte sie, ging die Keyntz bei der primarärztlichen Visite mit, wurde etwas gefragt, gab ruhig und präzis Antwort, während ich, dachte Margit, neben ihr stand und mich nicht rühren konnte. Ich hörte nicht hin, wenn die Oberärztin Inge Haller etwas erklärte, dennoch hatte ich alles verstanden und führte es aus. Auch war Margit noch keinem Patienten schluchzend um den Hals gefallen, obwohl sie das Gefühl hatte, jeden Augenblick und immer wieder in Tränen ausbrechen zu müssen. Zwar stand ihr die seit dem Tod von Papa sehr tranige Mutter vor Augen, aber es war ihr egal, ob sie nun ebenso erbärmlich wirkte wie jene. Margit dachte, dass sie nun auch offensichtlich einen Traummann verloren hatte, aber einen unverstorbenen, der nahe an ihrem Leben sich seine prachtvolle Zukunft gestaltete. Ob er einmal, betrunken nach Hause kommend, Arm in Arm mit der Gehlen, von einem noch betrunkeneren Maseratifahrer über die Gassen geschleudert wird? Da fliegen die zwei einträchtig nebeneinander durch die Luft, schlagen gleichzeitig und Kopf an Kopf an der Wand eines Zinshauses auf, rutschen aufs Trottoir hinunter und verscheiden, ohne sich noch groß voneinander verabschiedet zu haben. Oder er liegt auf der Intensivstation im Rudolfspital. Margit wird von der Haller herbeigerufen. »Ist das nicht dein Exherzallerliebster«, fragt sie sie, und ich gehe rein, dachte es fort und fort in ihrem Schmerzschädel, und ich schau runter auf Karl Fraul, wie er seinen jahrzehntelangen Komaschlaf antritt.
Unwirsch griff sie sich immer wieder an beide Schläfen, um
diese Gedanken aus dem Kopf zu drücken oder sie in seinen Hintergrund zu pressen. Davon habe ich wohl seit Tagen die leichten, aber andauernden Nackenschmerzen, dachte sie. Bravo. Sie ging zum Honda Jazz und fuhr in die Schleifmühle.
Stefan war leidlich geschniegelt in seinem neuen Anzug erschienen, sah sie an, sagte ihr was Liebes, das Margit sofort vergaß, und sie gingen los und zu Fuß runter zur Staatsoper.
Während der Aufführung hoffte sie, sich wiederum mit sich eins fühlen zu können, denn sie hatte schöne Erinnerungen an die Aufführungen der Carmen mit dem Vater. Jetzt gab Höppner den Escamillo. Den hatte ich auch schon besser gesehen, dachte sie. Sie wusste nicht mehr, warum sie so dringend in die Oper gehen wollte, nachdem sie unversehens durch die Anzengruberereignisse vor Vaters Grab gelandet war. Sie saß da, die Musik rauschte nur so durch sie durch. Bei der Arie »La fleur que tu m'avais jetée«, die der Tenor Heininger etwas knödelhaft sang, musste Margit den Kopf auf Stefans Schulter legen. Druckwellen schienen sich in ihrem Bauch zu sammeln, um über den Oberkörper aus dem Mund zu fahren. Sie verschloss ihn, indem sie die Lippen versteifend aufeinanderdrückte. Ein Weinkrampf an der rührseligsten Stelle, das fehlte noch. Doch Stefan drückte seiner Schwester mit der flachen Hand auf den Scheitel, umfing sie sacht mit dem anderen Arm, und es gelang, die Druckwelle zu zerstäuben, bevor sie hochgestiegen wäre. Gleich im Anschluss bemächtigte sich Margits eine platzgreifende Gleichgültigkeit, sodass sie in der Pause nahezu vergnügt wurde. Kammerlander machte den Geschwistern Aufwartung, ließ sie und die verehrte Frau Mutter von Direktor Nürnberger herzlich grüßen. Dann wollte er die beiden zum eben eingetroffenen Präsidentschafts
kandidaten Doktor Johann Wais bringen und ihm vorstellen. Das bog Margit ab. Stefan verhielt sich vorbildlich. So höflich und zartfühlend hatte sie ihn seit seinen Kindertagen nicht mehr gesehen. Mit Genuss verfolgte sie den Schluss der Oper, klatschte lang, obwohl das eine sehr durchschnittliche Aufführung war, als wollte sie den
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