Der Kalte
Poldl.« Rosinger winkte dem Cervenka zu, der einen neugierigen Blick auf Fraul warf und ging.
»Wer?«
»Poldl Cervenka, ein Bekannter.«
»Von früher?«
»Nein. Er wohnt in der Hörnesgasse. Er ist oft unter meinem Fenster vorbeigegangen, so sind wir einmal ins Plaudern gekommen. Ich spiel Fressschach mit ihm, gelegentlich.«
»Ah ja. In dem Lokal spielen einige Fressschach.«
»Eigentlich bloß der Poldl und ich.« Der Wirt brachte dem Rosinger das Menü persönlich.
»Noch ein Seidel.« Die beiden Männer begannen zu schweigen. Als der eine aufgegessen hatte, war der andere noch am Beginn. Fraul wartete, bis Rosinger fertig war.
»Es tät einen interessieren, was die Konsorten heute so denken und reden. Was für Beziehungen sie heute haben, Einfluss und so weiter.«
Fraul verschränkte die Arme und lehnte sich zurück, schaute dem Rosinger ins Gesicht. Der wandte es ab, starrte in
den leer gegessenen Teller und murmelte: »Soll ich mich umhören? Wollen Sie sowas von mir?«
»Ich will gar nichts, Rosinger.«
Der nickte. Es blieb eine Weile still zwischen ihnen.
»Sie sind heute hier, Herr Fraul. Es ist Montag. Die letzten Donnerstage waren Sie nicht drüben.«
»Bin ab jetzt wieder jeden Donnerstag drüben.«
»Verstehe. Freut mich.«
»Können Sie was anderes als Fressschach?«
»Was meinen Sie?«
»Na hundsgewöhnliches Schach.«
»Freilich.«
»Bleiben Sie noch?«
»Soll ich mit Ihnen –?«
»Nein. Wir sehen uns Donnerstag?«
Rosinger nickte, sah dem Fraul zu, wie er aufstand, sich den Mantel holte und den Hut aufsetzte.
»Haben die drüben ein Schach?«, fragte Rosinger.
»Sicher. Grüß Sie.«
Fraul verließ das Lokal. Da es ihn fröstelte, knöpfte er sich den Mantel zu, steckte die Hände in die Taschen und entschloss sich, jetzt noch zu seiner Mutter zu fahren, um zu schauen, ob sie bereits in die Pflegestation übersiedelt worden war.
Rosinger saß noch lange allein im Hörndl. Die Gedanken, denen er nachhing, bewirkten, dass er mehr und mehr in sich zusammensank. Schließlich riss er sich von ihnen los, rappelte sich auf, zahlte seine und Frauls Zeche und ging entschlossen in seine Wohnung zurück.
6.
Tschonkovits saß missmutig vor etlichen aufgeschlagenen Dossiers, die seiner Schreibtischoberfläche eine ornamentale Musterung verliehen, griff einmal zu einem, dann zum andern Dokument, blätterte, las sogar, vertiefte sich, um nach einiger Zeit das Aktenmaterial vor sich hinzuwerfen, aufzustösseln und Dossier für Dossier schließlich hinter dem Telefon in der rechten oberen Ecke aufzuhäufen.
Im Grunde ist gegen diesen Wais nichts zu machen, dachte er. Das ist ein Mann ohne Eigenschaften, von dem man aber unmöglich ein Tausendseitenbuch schreiben könnte, es sei denn, man füllte den Bericht mit Floskeln in immer nur unmerklich von vorherigen sich unterscheidenden Versatzwortschleifen, als würde man die Spektralfarben millimeterweise von hell nach dunkler verändern. Ein Österreicher ohne Ecken und Kanten, nicht einmal mit Bauch, gediegen, beflissen, von schweinebüchener Höflichkeit. Ja, ja, dachte er verdrossen, ein Diplomatengewächs, ein efeuartiges.
Der Chef rief an, Tschonkovits hörte sich die sorgenvollen Worte des Bundeskanzlers an, nickte von Zeit zu Zeit, während er sich mit dem Zahnstocher im Mund herumfuhr. Gelegentlich sagte er etwas Beruhigendes, etwas Vertröstendes, bis der Bundeskanzler mit seinen Schlussbemerkungen anhob, einige depressiv gefärbte Sätze dem Tschonkovits noch ins Ohr schob und auflegte. Johannes machte, nachdem er ein bisschen im Zimmer auf und ab gegangen war, weiter mit den Dossiers, unterbrach bloß, um seine Historiker anzurufen und, sofern er sie erreichte, anzuschnauzen oder anzusüßeln, je nachdem. Schließlich beschloss er, auf dem Heldenplatz eine Runde zu drehen, sich der Frühlingssonne zuzuwenden und den Fiakerpfer
den auf die breiten Ärsche zu blicken, um seine Idée fixe vom Bedrecken des Doktor Johann Wais etwas in den Alltagsbewegungen der Inneren Stadt aufzuweichen. Denn es war schon so weit, dass Tschonkovits das Gefühl hatte, unter seiner Schädeldecke hätte sich ein kleiner Mann eingenistet, hätte ein winziges Megafon vorm Mund, das aber einen beträchtlichen Lärm entwickeln konnte. Immerzu flüsterte der Kleine in die Tüte Losungen hinein, die dem Wais schaden könnten. Es waren allerdings sinnlose, ganz und gar phrasenhafte Sätze, die aus dem Megafon dröhnten und Tschonkovits andere Gedanken aus
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