Der Kalte
dem Schädel drängten. Hier am Heldenplatz, als er sich auf einer Parkbank niederließ und den Fiakern nachsah oder Beobachtungen an da und dort vorbeigehenden Passanten anstellte, schien aus dem Megafon nichts zu kommen, und er konnte sich entspannen, und so saß er einher, rauchte einige Zigaretten, überlegte, ob er ins Landtmann gehen sollte, um etwas zu sich zu nehmen, ließ es und ging zurück ins Büro.
Er kam rechtzeitig, um noch den Telefonhörer abzuheben, er stand da im Mantel und hörte eine heisere Stimme:
»Tschonkovits?« Doch bevor Tschonkovits erwidern konnte, fuhr die Stimme fort: »Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Hören Sie zu, Kanzlerkuli, hören Sie zu.«
Ein Verrückter, schon wieder, dachte Tschonkovits, behielt aber den Hörer am Ohr.
»Sind Sie noch dran?«
»Bin ich«, murmelte Tschonkovits.
»Der feine Wais war bei der SA . Merken Sie sich das. Gucken Sie mal nach der Wehrstammkarte.«
»Wehrstammkarte«, sagte Tschonkovits. »Und Blutorden. Selbstverständlich. Wie komme ich dazu?«
»Äh?«
»Apportiert mir das Ihr Hund?«
»Sehr lustig, Zauberer. Landesarchiv. Viel Spaß.« Und die Verbindung wurde getrennt.
Tschonkovits betrachtete den Telefonhörer. Landesarchiv, dachte er. Unsinn, da waren doch schon alle. Er zögerte, wählte Apolloners Nummer.
»Roman, findest du auf einem Trampelpfad Sächelchen, auf die noch keiner gestiegen ist?«
»Kann sein. Wenn wo was ist, find ichs schon. Um was gehts?«
»Wais.«
»Das weiß ich. Das ist doch dein Liebling. Aber was mit Wais?«
» SS .«
» SS ? Sonst noch was. Wo denn?«
»Landesarchiv. Wehrstammkarte. Angeblich.«
» SS ?«
» SA .«
»Ach so. Immerhin. Woher weißt du?«
»Ich weiß gar nichts. Habe einen Tipp gekriegt.«
»Landesarchiv. Da waren schon alle, ich auch.«
»Eben.«
»Aha. Dort, aber woanders.«
»Du sagst es.« Beide schwiegen eine Weile.
»Glückauf, Roman.«
Apolloner hatte bereits aufgelegt.
Apolloner fand schließlich die Wehrstammkarte. Es gab Umstände, die dazu führten, dass sie nicht auf dem Platz war, wo sie hingehörte, und sich wohl auch Jahrzehnte dort befand. Doch obwohl Apolloner kein ausgewiesener Zeitgeschichtler war, hatte er im Laufe seines Journalistenlebens Kontakte für sich zu nutzen gewusst. Er nahm an,
dass die Karte nicht verschwunden, sondern woanders verborgen war. Er führte einige Telefonate, eines mit einem Studienkollegen, dessen Vater eine Schwägerin hatte, welche jahrelang im Landesarchiv …
Apolloner brachte die Kopie zu Tschonkovits und reservierte sich für die nächste Nummer im Signal ausreichend Platz, um die größere und wirksamere Bombe explodieren zu lassen. Doch der Chefredakteur Alphons Klingler schüttelte den Kopf.
»Dieses Ding muss ich drehen, Roman. Dem müssen wir jetzt Gewicht verleihen«, sagte er. Apolloner hatte nun einen ganzen Nachmittag beim Chef zu verbringen, alles herauszusagen und zu notieren, was er wusste, annahm und dachte, damit Klingler es aufsog, um hernach damit seinen Aufmacher zu bestreichen und auszuschnörkseln.
»Hauptsache, es geht los«, sagte Roman im Pick Up zu Judith, welche ihn zu trösten versuchte. »Ich bin nicht so versessen, es selbst zu machen, ich heiß ja nicht Judith.«
»Danke«, sagte sie, drehte sich um und ging von der ersten Theke zur zweiten hinüber, begrüßte den Katz, der mit Hirschfeld dort in einer Diskussion war, und stellte sich dazu. Immer wieder war sie versucht, den beiden die Geschichte von der Wehrstammkarte zu verklickern, nicht weil sie den Apolloner damit ärgern wollte, sondern weil sie diese Information einfach nicht bei sich behalten konnte. Sie stand neben den beiden, hörte mit einem Viertel Ohr zu und bekam nachgerade mit, dass Hirschfeld sich bei Katz darüber beklagte, wie sehr sein Hamburger Verlag ihn zu bedrängen begonnen hatte, einen Roman zu schreiben.
»Sie achten meine Gedichte sehr«, sagte er mit rauer Stimme, »aber sie schätzen sie nicht.«
Judith, die soeben unterbrechen wollte, stutzte, schaltete
um und begann Hirschfeld sofort auszufragen, ob er denn ein Romanprojekt in petto hätte.
»In petto«, schrie er sie an. »Bist du verrückt?«
Apolloner war Judith nachgegangen, ihm schwante etwas, sodass er sich neben sie stellte, sie schließlich zärtlich am ihm nächstgelegenen Ohr berührte, leicht daran zog und ihr zuflüsterte:
»Wollen wir zu dir gehen?«
»Sie glaubt«, wandte sich Hirschfeld an die Umstehenden, »ich hätte einfach einen
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