Der Kalte
die sich in der »Stillen Hilfe« engagierten, meistens Witwen oder manchmal sogar schon die Töchter. Nichts von Egger. Was will er wohl von ihm? Was gehts mich an? Wenn ich was herauskriegen kann …
Als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde ihm mit einem Mal wohl zumute. Er setzte sich zum Fenster, sah fröhlich auf die Gasse hinunter, schob das Krimiheft zur Seite und begann sogar vor sich hin zu pfeifen. Er hörte abrupt auf, als er merkte, dass er das Lied vom Kameraden vor sich hin gepfiffen hatte. Er lachte laut auf. Er lachte aus dem Fenster auf die Geologengasse hinunter.
Schließlich legte er die Kiste neben den Fernseher, sah auf die Uhr. Es wird Zeit.
Ich hätte, dachte er, als er über die Rotundenbrücke ging, mit Agnes nach Krakauebene mitfahren sollen. Denn jetzt muss ich eh wieder Kontakt aufnehmen mit den Kameraden. Während er die Schüttelstraße entlangging, merkte er, dass etwas Federndes in seinen Schritten war.
19.
Nachdem Stefan an der Wohnungstür angeläutet hatte, öffnete sich diese, und ein Mädchen in schwarzem Kleid mit weißer Schürze ließ ihn herein. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm den Mantel abnehmen wollte und auch den Hut, doch da er sowohl barhäuptig als auch blank in seinem Anzug vor ihr stand, wies sie ihn mit einer verlegenen Handbewegung an einzutreten. Er ging an ihr vorbei durch das schlauchartige Vorzimmer, an dessen Wänden links und rechts Kandelaber aus der Wand herausragten. Neben den Kandelabern Türen, aus einer kam ein gleich gekleidetes Mädchen heraus, um in einem Zimmer gegenüber zu verschwinden. Am Ende des Vorraums befand sich eine breite getäfelte Tür, welche sich auftat, und Dolores Segal stand vor ihm, umarmte ihn kurz und fest, trat hernach zwei Schritte zurück, um ihn zu betrachten. Hinter Dolly bot sich seinem Blick ein großes helles Zimmer, in dessen Mitte zwei Stufen eine Sitzlandschaft umliefen. Aus einem der Fauteuils erhob sich Ernst Segal. Er hatte einen hellbraunen Anzug an, eine dunkelblaue Krawatte und ein paisleygemustertes Stecktuch, welches etwas zu weit herausstand. Stefan wandte seinen Blick von diesem Stecktuch ab und sah dem entgegenkommenden Vater mit weit
geöffneten Augen entgegen. Hinter Segal nahm er noch einige Personen wahr, die, nachdem sie ihre Gespräche unterbrochen hatten, aus der Sitzlandschaft heraus auf den Neuankömmling blickten. Stefan wurden die Knie weich und etwas wacklig, denn es schien sich hier um ein besonderes Ereignis zu handeln. Nicht nur dieses Zimmer, auch die Anwesenden hatten etwas Festliches an sich.
»Sie also sind Stefan«, sagte Segal mit fröhlicher Bassstimme und reichte ihm die Hand. Während er Stefans Hand noch schüttelte, rief er nach seiner Frau, die anscheinend hinter einer Tür gewartet hatte, die neben jener Tür lag, durch die Stefan hereingekommen war. Frau Segal, in einem dunkelbraunen Kostüm, erschien und wurde ihm von ihrem Mann als Cilla, die Mutter von Dolores, vorgestellt. Cilla gab Stefan ihre kleine ringbesäte Rechte und lachte dabei übers ganze Gesicht. Stefan machte eine rasche Verbeugung bloß mit dem Kopf, sodass dies nach einem heftigen Kopfnicken aussah, währenddessen sein Gesicht rot anzulaufen begann. Dolly ergriff Stefans Schulter und zog ihn zur Sitzgruppe hin. Dort befanden sich etliche Leute. Diese erhoben sich gleichsam der Reihe nach, gaben ihm Hand um Hand und murmelten dabei ihre Namen. Eine Art Glockenspiel erklang, und das Ehepaar Segal, das sich hinter Dolly und Stefan anschickte, in der Sitzlandschaft Platz zu nehmen, wandte sich zur Tür, um den nächsten Gast abzuwarten und zu empfangen. Dolly und Stefan saßen nun nebeneinander, sie ergriff seine Hand und drückte sie. Eines der Serviermädchen kam aus einer Dielentür von gegenüber heraus und trug ein Tablett mit einigen kristallenen Schnapsgläsern, offerierte den beiden je eines. Macht die jetzt einen Knicks, dachte Stefan, wandte sich an Dolly, nachdem er ein Glas genommen und ihr gegeben, das zweite an sich gebracht hatte.
»Hat wer Geburtstag?«
Bevor Dolores antworten konnte, erschienen weitere Gäste; die beiden mussten sich erheben und Hände schütteln. Nun murmelte Stefan in der gleichen Art seinen Namen, wie er es vorhin gehört hatte.
»Es ist Seder«, sagte Dolores leise zu ihm.
»Seder«, zischte er, »was ist Seder?«
Dolores beugte sich zu Stefans Ohr.
»Wir feiern das Passahfest.«
»Wann?«
»Na jetzt. Heute Abend beginnt es.
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