Der Kalte
wickelte das größere in eine Serviette und wandte sich an die drei Kinder.
»Afikonam«, sagte sie zu ihnen, als würde sie ihnen Vanilleeis versprechen, und ging das Stück verstecken. Schon hing Dolly wieder an Stefans Ohr, um ihm die Bedeutung dieses Sachverhalts zu erläutern, während Boaz gegenüber mit leiser Stimme das Gleiche bei Sissy tat.
Wie auf Kommando schoben alle den Sederteller zur Seite, wieder wurden Rotwein und Traubensaft gereicht, die Leute nahmen ein Buch zur Hand, und auch Stefan bekam eines in die Hand gedrückt. Er schaute auf die hebräischen Zeichen, Dolly blätterte ihm die Haggada nach hinten und unterwies ihn, vom Anfang mitzulesen.
»Wie denn?«, fragte er.
»Ach so. Hat jemand ein englisches Exemplar?«
Ruthi Schmelczer, die jüngere der Schwestern, erhob sich, doch Esthi, die ältere, sagte ihr: »Mach dich wichtig, Ruthi. Da haben Sie, junger Mann.« Und sie griff unter den Tisch, holte eine englische Version der Haggada hervor und schob sie Stefan zu.
Segal begann mit Singsang daraus zu lesen, nicht ohne vorher auf das jüngste Kind gezeigt zu haben, welches stotternd und unter Mithilfe des älteren Brüderchens eine Frage auf Hebräisch aufzusagen hatte. Nach einigen Minuten und an bestimmten Stellen begannen die Schwestern oder auch Frau Samueli mit Ernst Segal mitzuleiern, gelegentlich sagten alle auf einmal »Amen«. Dolores fuhr mit dem Finger in Stefans Haggada auf die jeweils aktuelle Stelle. Stefan verstand selbstverständlich kein Wort und ließ die Prozedur über sich ergehen, schaute gelegentlich zu Sissy hinüber, die aber so tat, als würde sie tadellos dem hebräischen Text folgen können.
Irgendwann beugten sich wieder alle nach links, tranken Rotwein und Traubensaft. Hernach aßen die meisten von der Matze, dann vom Apfelkren, dann klemmten sie den
Maror zwischen zwei Matzestücke, und Boaz sagte dazu grinsend: »Korech, nach Rabbi Hillel.«
Die ganze Zeit wurde weiter geleiert, gesingsangt und gelegentlich »Amen« gesagt. Stefan bemerkte, dass Ernst Segal bisweilen etliche Seiten übersprang. Boaz beugte sich vor und sagte zu Stefan: »Wir nehmen es hier nicht so genau.« Die ältere Schmelczer verzog allerdings stets leicht den Mund, wenn sie überblättern musste. Schließlich tauchten die Gäste hartgekochte Eier, die sie vom Sederteller genommen hatten, ins Salzwasser, um sie nachher aufzuessen.
»Unsere Trauer wegen der Zerstörung des Tempels«, sagte Esthi Schmelczer laut.
»Und Gottes Wille, sein Volk zu erlösen«, setzte Ruthi Schmelczer fort.
»Nicht Wille! Wunsch!«, sagte Esthi.
»Gut, Wunsch«, sagte Ruthi.
Hernach entspannte sich für Stefan die ganze Sache, es wurden Speisen aufgetragen, vor allem Huhn, dazu Fleischbällchen und Gemüse, und alle langten zu.
20.
Die Stimmung im Presseclub Concordia, die Johann Wais bei dieser Pressekonferenz entgegenschlug, war deutlich frostiger als vor einem Monat. Nun musste die Frage der SA -Zugehörigkeit geklärt werden. Die Präsidentschaftswahl kommt schneller, als man papp sagen kann, dachte sich Walter Weber, der nun zum Chef des inneren Kabinetts von Johann Wais aufgestiegen war. Er war ein grobschlächtiger Mann in den Fünfzigern, dessen Credo der Pragmatismus in allen Lebenslagen war. Aus dem CV hervorgegan
gen und kadergeschmiedet in Niederösterreich, war er der dortigen »Stahlhelmfraktion« zu liberal geworden, zu wenig auf die christlichen Werte des kontinuierlichen Machterhalts eingeschworen, wie sein zuständiger Landeshauptmann im kleinen Kreis sich geäußert hatte, sodass der ihn gern in den Beraterstab des Präsidentschaftskandidaten entließ. Hier legte Weber sich alsogleich mit Jungnickel an, indem er ihm die Schuld an der Patzerei mit der lückenreichen Waisautobiographie gab. Jungnickel wollte sofort die Tür ins Schloss werfen; er habe sich von dahergelaufenen Agrarbürokraten aus Böheimkirchen keine Vorwürfe anzuhören. Wais bat ihn zu bleiben und breitete hiebei weit seine Arme aus. Er werde mit Weber nicht allzu viel zu tun haben. Nun, wo die Ostküste sich womöglich in den Wahlkampf einzumischen drohte, könne er auf ihn, Jungnickel, und seine erstklassigen Kontakte ja auch gar nicht verzichten. Jungnickel willigte schließlich ein, verbat sich allerdings, direkt in die Auseinandersetzung um die angebliche SA -Zugehörigkeit eingebunden zu werden, sodass er bei der Pressekonferenz auch fehlte. Novacek hatte im Vorfeld in den Pausen, die ihm seine Magenattacken
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