Der Kalte
Zustand sollt ich nicht Tagebuch schreiben. Ich hab mich dem Guido gegenüber ziemlich aufgeführt, das tut mir eigentlich leid. Andrerseits weiß ich nicht, was der Kerl von mir will. Heute Abend gehe ich zu Dolores und lerne ihre Eltern kennen. Es ist anlässlich irgendeines Festes, das sie feiern, zugleich irgendwie unsere Verlobung.
Ihr Vater ist ein Architekt und hat als Junger emigrieren müssen. Ich bin nervös, ich will gar nicht hingehen, aber der Dolly ist es wichtig, sie will das unbedingt. So eine Verlobung ist nicht nur angenehm. Hoffentlich gefalle ich denen und mach nicht versehentlich irgendwo in der Wohnung des Herrn Architekten einen Fleck.
Dolores Segal rief Stefan Keyntz an, um ihn für denselben Tag achtzehn Uhr zu sich einzuladen. Ihre Eltern wollten ihn nun kennenlernen, sie hätte ihnen ausführlich bereits von ihm erzählt; nun sei es an der Zeit, dass er angetanzt komme. Stefan spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, er setzte sich mit halbem Hintern auf Margits Schleiflackschreibtisch und nahm in kurzem Abstand den Telefonhörer vom linken Ohr und führte ihn zum rechten, um nach wenigen Sätzen wieder zum linken zu wechseln. Dolores' helle und feste Stimme breitete sich energisch in seinem Kopf aus und verquirlte seine Gedanken, sodass Stefan in eine leichte Stotterei geriet. Dolores unterbrach:
»Sag, ist dir das nicht recht?«
»Doch, sehr, dochdoch. Ja.«
»Zieh dir den Opernanzug an und nimm eine blaue Krawatte.«
»Hab keine.«
»Du hast keine Krawatten?«
»Keine blaue.«
»Sondern?«
»Warte.« Stefan legte den Hörer weg und ging seine Krawatten besichtigen.
»Ich hab eine blaue. Mit weißen Tupfen.«
»Dein Anzug ist dunkelgrau?«
»Kann sein.«
»Und ein blütenweißes Hemd.«
»Sind alle bei der Mutter.«
Dolores lachte. »Um sechs. Nedergasse fünf, du weißt?«
»Dolly, ich muss noch in die Schleifmühle, jetzt ist es drei. Ich weiß nicht, ob ich den oberen Knopf zukrieg. Ich weiß nicht, wo Mutter die Hemden hat. Sie ist vermutlich am Friedhof, wie üblich.«
»Hast du genug Geld? Kauf dir eins. In der Döblinger Hauptstraße beim –«
»Ich weiß, wo ich Hemden krieg. Muss ich denn unbedingt in der Schale daherkommen?«
»Unbedingt, ja, mein Liebster, du sagst es. Und bring Blumen mit für meine Mutter.«
»Chrysanthemen?«
»Nein. Lass dir einen Strauß arrangieren.«
»Können wir uns nicht vorher … und gemeinsam …?«
»Ich hab hier noch urviel zu tun. Ich freu mich. Bis dann.«
Stefan lauschte der Stimme nach. Hernach rief er seine Mutter an und erreichte sie auch. Sie versprach, ihm die Hemden gleich in die Hardtgasse zu bringen, wollte aber nicht bleiben, sie müsse sofort weiter.
»Schon gut«, sagte Stefan, legte sich aufs Bett und setzte die Kopfhörer auf.
Fünf Minuten vor sechs stand er mit seinem Blumenstrauß in der Hand vor einem villenartigen Gebäude und schaute zum zweiten Stockwerk hinauf. Er putzte den linken Schuh am rechten Hosenbein blank, den rechten am linken, schaute auf die Uhr und wartete noch einige Minuten. Um sechs läutete er bei Segal und wurde sofort eingelassen.
18.
Edmund Fraul bemerkte, obwohl er sich in seinem vertrauten Alb befand, dass Rosa, ohne ihn zu wecken oder von seinen nach außen gedrungenen Nachtmahrgestalten Notiz zu nehmen, leise das Bett verlassen hatte. Seine linke Hand fuhr noch über das Leintuch, hinein und heraus aus der Mulde, die seine Frau hinterlassen hatte, dann hatte ihn sein Alb wieder ganz und gar, und so ging er hinter dem Standortarzt Eduard Wirths die Rampe von Birkenau entlang. Es wehte ein kalter Wind, obwohl der Juli neunzehnvierundvierzig sehr heiß war, doch nun in der Nacht fröstelte ihn. Ein neuer Ungarntransport fuhr unterm großen Tor herein und kam mit dem vertrauten Quietschen und Zischen und mit nachlassendem Stampfen zum Stehen. Als die Hunde zu bellen begannen, die Türen aufgeschoben wurden und die Kommandos durch die Luft segelten, blieb Wirths stehen, nahm die Positur ein, die er sich bei den Selektionen angewöhnt hatte. Der stinkende Haufen, welcher unter Gebrüll und Gebell von SS , Kapos, Hunden aus den Waggons herausschwappte, ward aufgestellt – schneller, schneller – und gleichgerichtet, sodass die Einzelnen, jeder für sich, vor dem Standortarzt begutachtet und in die eine oder andere Richtung zur Weiterverarbeitung geschickt wurden. Der dicke Capesius stand dreißig Meter weiter am Ende des Zuges und unterhielt sich freundlich
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