Der Kalte
mit Landsleuten, die er erkannt hatte und die ihn freudig begrüßten, bevor er sie ebenfalls wie Wirths in zwei Richtungen aufteilte. Fraul war bestrebt, mit seinem linken Arm den rechten von Wirths zu erlangen, umschloss vorsichtig dessen Ellenbogen und versuchte durch sanften Druck die Zeigerichtung von rechts nach links zu verändern. Wirths drehte sich immer wieder zu Fraul um, sagte ihm lächelnd: »Ach, lassen
Sie das, Fraul, ich tu ohnedies mein Möglichstes. Nein, Fraul, dieses alte Wrack kann ich beim besten Willen –, das ist Ihr Onkel? Sie haben doch keinen Onkel aus Temeswar.« Doch Edmund gelang es gelegentlich, rechtsbündige Passagiere in linksbündige zu verwandeln. Schließlich blieb bloß eine verhältnismäßig kleine Gruppe übrig, die den Weg direkt ins Gas anzutreten hatte. Der Apotheker kam vom unteren Ende des Zuges einherspaziert, schüttelte Wirths die Hand: »Herr Doktor, Herr Doktor, das nennen Sie eine Selektion? Geht mich ja nichts an, geht mich ja nichts an. Schenken Sie mir den da?« Und Capesius fuhr mit seiner dicken Faust an Frauls Brust, knüllte sein Hemd dort zusammen und begann ihn mit sich zu ziehen, um ihn rechtsbündig zu machen. »Schon gut«, sagte Wirths. Der Apotheker gab Fraul frei und lachte ihm ins Gesicht: »Wie schön, dass man Freunde hat.« Er entfernte sich pfeifend. Fraul ließ den Ellenbogen des Standortarztes los und verfolgte mit den Augen den etwas watschelnden Gang, mit welchem Capesius sich davonbewegte. Schließlich drehte er sich zu Wirths um, doch der war verschwunden. Ihn fröstelte wiederum, und so erwachte er, lag in seinem Schweiß, und vom geöffneten Küchenfenster kam mit dem Straßenlärm ein frischer, scharfer Wind.
Erst nachdem er geduscht und sich rasiert hatte und im Begriff war, sich mit der italienischen Espressokanne seinen Kaffee zu machen, bemerkte er den Zettel von Rosa auf dem Tisch. Demzufolge war sie schon wieder zum Sohn gelaufen, welchem es trotz seiner neuen Rolle, die er nun doch an der Burg bekommen hatte und auch spielte, so furchtbar schlecht ging. Rosa konzentrierte sich auf ihren verzweifelten Sohn, und der ließ sich das Um-ihn-herum-Sein weidlich gefallen. Edmund intensivierte die Archiv
arbeit, nahm häufig Vorträge an und begann sich für das Alltagsleben des Schädelknackers Egger zu interessieren, der nun Eigler hieß, dessen Aufenthaltsort herauszubekommen ihm aber nicht gelang. Seine Bemühungen darum waren allerdings zögerlich gewesen, denn er wusste nicht so recht, was er mit dem freigesprochenen Naziverbrecher vorhatte und weswegen der ihm seit kurzem nicht aus dem Sinn ging. Edmund Fraul hatte sich seinerzeit mit dem Freispruch abgefunden, dem enttäuschten Herrmann Gebirtig, der als Hauptzeuge gegen Egger ausgesagt hatte, sogar einen langen tröstenden Brief nach New York geschickt und sich achselzuckend seinen anderen Aufgaben zugewandt. So ist es nunmal in Österreich, hatte er geschrieben. Unsere Generation sei verloren, von denen sei nichts zu erhoffen, aber manches noch zu befürchten. Man müsse auf die Jugend setzen. Das sei zwar auch wenig chancenreich, aber sonst bleibe nichts übrig. Nachdem er damals den Brief an Gebirtig abgeschickt hatte, beschlich ihn der Verdacht, dass er damit den zutiefst Verletzten, der sofort und wortlos nach dem Freispruch für Egger Österreich verlassen hatte, eher nicht getröstet, sondern noch in dessen Entschluss, nie mehr zurückzukehren, bestärkt hatte. Doch im Grunde war es Edmund gleichgültig. Ob man hier ausharrt und versucht, mit dem Leben nach wie vor davonzukommen, oder in Amerika seine Albträume zu Texten verarbeitet, die keinen interessieren, ist einerlei. Zwar schreibt Gebirtig weiter Komödien, die erfolgreich aufgeführt werden außerhalb des deutschen Sprachraums, aber was nützt es denn, wenn sich Gebirtigs Nachtmahr im theatralischen Gewitzel verbirgt?
Fraul trank den Kaffee aus, schloss das Fenster und verließ die Wohnung. Als er die Tür versperrte, hörte er in der Nachbarwohnung heftigen Streit. Glückliche Staneks, dach
te er und ging die Stufen hinunter. Er überquerte die Salztorbrücke, blieb am Morzinplatz stehen, als wüsste er auf einmal wieder nicht, was nun zu tun sei. Ich bin, dachte er, nicht fertig mit meiner Frage, warum mich der Egger mehr und mehr beschäftigt. Während er darüber grübelte, fiel ihm Wilhelm Rosinger ein. Mit dem spiele ich vielleicht heute doch Schach, dachte er. Dem zeige ich es.
Rosinger hatte
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