Der Kalte
auch an diesem Apriltag mit kräftig-würziger Luft seinen Fensterplatz eingenommen. Er hatte eine Serie Allan-Wilton-Hefte neu erstanden, sie im Kasten neben den Unterhosen gestapelt, das oberste zum Fenster getragen und begann mit jener freudigen Erwartung zu lesen, die einen erfasst, wenn man in vertraute Gegenden zurückkehrt. Gleichzeitig observierte er wie immer die untere Geologengasse, der Häferlkaffee stand neben ihm, und Rosinger begann ihn zu schlürfen und dabei die ersten Zeilen zu lesen. Nach einer Seite stellte er fest, dass er mit den Gedanken woanders war, denn er hatte gar nicht gelesen, was er gelesen hatte. Er schob das Heft zur Seite, linste zu den Fenstern seiner Schwester. Ihre Rollos waren heruntergelassen. Agnes war mit einer Gruppe ihrer neuen Freunde auf einige Tage nach Krakauebene ins Steirische gefahren, Leuten, denen Rosinger aus dem Weg gehen wollte. Suchte seine Schwester einen neuen Mann unter diesen Ehemaligen, oder schickte sie sich an, für die Freiheitlichen tätig zu werden, falls der kleine Jupp Toplitzer diese übernehmen würde?
Rosinger verließ den Fensterplatz, setzte sich an den Tisch, der mitten in seinem Wohnzimmer stand, und schaute auf die leere Fläche, legte seine Hände darauf und hörte dem Ticken der Wanduhr zu.
Mittags spiele ich vielleicht doch Schach mit Fraul, dachte
er. Dieser Gedanke brachte ihn dazu, seinen Kopf zu heben, aufzustehen und im Zimmer umherzugehen. Er freute sich, und gleichzeitig war ihm bange, wenn er sich ausmalte, wie er, als wäre nie etwas geschehen, mit seinem ehemaligen Häftling eine Partie auf Spanisch eröffnete. Werde ich zuerst mit Weiß spielen?, fragte er sich. Was für Gründe hat denn der Fraul, mit mir Schach spielen zu wollen? Rosinger ging zur Kommode, bückte sich, um die vorletzte Lade herauszuziehen. Als die klemmte, spürte er, wie das Blut zu schnell in seinen Kopf rann, Schweiß aus der Haut trat und es ihm schwindlig wurde. Rasch setzte er sich auf den Fußboden, bekam endlich die Lade heraus und nahm »die Kiste«, stand mit einem Ächzton auf und trug sie zum Tisch. Er begann in ihr zu wühlen. Alte Briefe in fleckigen Kuverts, Bescheinigungen, Wehrpass, Mitgliedsbuch, Broschüren aller Art durchkramte er, ohne recht zu wissen, warum er das tat. Was suche ich, dachte er und ging wiederum zum Fenster, schaute auf die Gasse, als könnte ihm einer der drunten vorübergehenden Passanten Auskunft geben. Warum will ich dem Edmund einen Gefallen tun? Ich mag etwas tun für ihn. Warum, meine Güte, wieso? Dem gehts nicht gut, das seh ich. Er schaut von Mal zu Mal finsterer aus der Wäsche, dachte Rosinger. Ich rechne immer damit, dass er mir sagt, er habe es satt, im Gasthaus mein SS -Gfrieß anzuschauen. Irgendwie wundere ich mich, dass er mich dennoch gern trifft. Letztes Mal habe ich den Eindruck gehabt, dass er mich sogar sucht. Was will er, was kann ich für ihn machen? Ich könnte ihm die ganze Kiste geben. Er möchte sie auswerten oder verwenden, wie er will. Es ist zwar eigentlich gar nichts, was er brauchen kann, drin, oder doch? Na ja, indirekt, ich meine, wenn man es sich zusammensucht, könnt man eine ganze Liste von Ehemaligen erstellen. Rosinger setzte sich vor die Kis
te. Die Adressen sind zwar alt, dachte er, aber einer wie Fraul könnte sich an ihnen weiterhanteln. Aber wozu braucht er das denn? Die sind doch alle außer Obligo. Entweder haben sie wie ich ihr bisschen Schmalz abgesessen, oder sie sind eh schon gar nicht mehr angeklagt worden. Ich hab aber auch Material da über einige Kameraden, die man freigesprochen hat. Da, na bitte: Gerhart Mauss, der lebt noch immer in Murau, oder wo? Ja, in Murau. Den haben sie den Schlächter von Wilna genannt, aber er ist ganz ungeschoren geblieben. Sein Sohn ist bei den Freiheitlichen im Gemeinderat von dorten, ja ja. Es gibt Kameraden, die hatten Glück. Glück? Na ja, Glück. Ein Netzwerk haben sie nützen können. Hätte ich doch auch …
Rosinger stand wieder auf, ging auf die Toilette. Er schaute dem dünnen und schnell stottrig werdenden Harnstrahl hinterher, da fiel ihm zuguterletzt das ein, wonach er in seinem Gedächtnis gesucht hatte. Über den Anton Egger willst du Bescheid wissen, Edi? Grad von dem weiß ich gar nichts, dachte Rosinger. Der war meines Wissens bis zu seiner Verhaftung unsichtbar, hatte sich auch niemals im Café Westbahn mit uns anderen getroffen. Weder er noch seine etwaige Frau war irgendwo aufgeschienen. Rosinger kannte etliche,
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