Der Kampf mit dem Dämon
verflossen.
April und Mai und Junius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.
Das sind Verse nicht so sehr eines Irren, als eines Kinddichters, eines geistig ganz zum Kinde gewordenen großen Dichters; sie haben das Naive und Zwanglose infantiler Anschauung, niemals aber etwas Abruptes und Monströses, eine närrische Überstiegenheit. Wie in der Fibel reiht sich Bild an Bild, und mit der Naivität des Klapphornverses reimt sich die erhoben gesprochene Zeile. Kann ein Kind, ein siebenjähriges, eine Landschaft reiner und einfältiger sehen als Scardanelli, wenn er dichtet:
Oh, vor diesem sanften Bilde,
Wo die grünen Bäume stehn,
Wie vor einer Schenke Schilde,
Kann ich kaum vorübergehn.
Denn die Ruh an stillen Tagen
Dünkt entschieden trefflich mir.
Dieses mußt du gar nicht fragen,
Wenn ich soll antworten dir.
Ohne Nachdenklichkeit, ganz nur vom zufälligen Wind des Gefühls getrieben, absolut improvisatorisch also, schweben Bilder musikalisch auf und vorbei, Spiel eines seligen Kindes, das nichts vom Wirklichen weiß als die Farben und die Klänge, das lose Verbundene der Formen. Wie eine Uhr, deren Zeiger zerbrochen sind und in der innen noch das Werk sinnlos weitertickt, so dichtet Scardanelli-Hölderlin ins Leere einer erloschenen Welt hinein: Atmen ist für ihn Dichten. Der Rhythmus überlebt in ihm den Verstand, die Poesie das Leben: so erfüllt sich in furchtbar tragischer Verzerrung doch noch der tiefste Wunsch seines Lebens, ganz Dichtung zu werden, mit der ganzen Existenz restlos im Poetischen aufzugehen. Der Mensch in ihm stirbt vor dem Dichter, die Vernunft vor der Melodie; und Tod und Leben zusammen gestalten ihm bildnerisch als Schicksal, was einstens sein seherischer Wunsch als das wahre Ende der wahren Dichter gekündet: »In Flammen verzehrt die Flamme zu büßen, die wir nicht zu bändigen vermocht.«
Heinrich von Kleist
Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
Penthesilea
Der Gejagte
Ich bin dir wohl ein Rätsel.
Nun tröste dich; Gott ist es mir.
Die Familie Schroffenstein
Es gibt keine Windrichtung Deutschlands, in die er, der Ruhelose, nicht gefahren ist, es gibt keine Stadt, in der er, der ewig Heimatlose, nicht gehaust hat. Fast immer ist er unterwegs. Von Berlin saust er mit der rollenden Postkutsche nach Dresden, ins Erzgebirge, nach Bayreuth, nach Chemnitz, plötzlich jagt es ihn nach Würzburg, dann fährt er quer durch den napoleonischen Krieg nach Paris. Ein Jahr will er dort bleiben, aber schon nach wenigen Wochen flüchtet er in die Schweiz, wechselt Bern mit Thun, und Basel wieder mit Bern, fällt jählings wie ein geschleuderter Stein in Wielands stilles Haus zu Oßmannstedt. Und über Nacht treibt es ihn wieder fort, nochmals rennt er auf heißen Speichen über Mailand und die italienischen Seen nach Paris, stürzt sich sinnlos nach Boulogne mitten in eine fremde Armee und wacht dann plötzlich todkrank in Mainz auf. Und wieder wirft es ihn hinüber nach Berlin, nach Potsdam: ein Jahr lang nagelt ihn, den Unbeständigen, ersehntes Amt in Königsberg an, dann bricht er wieder los, will quer durch die marschierenden Franzosen nach Dresden, wird aber als vermeintlicher Spion nach Châlons geschleppt. Kaum befreit, flirrt er im Zickzack durch die Städte, stürmt von Dresden, mitten im österreichischen Krieg, nach Wien, wird bei Aspern während der Schlacht verhaftet und rettet sich nach Prag. Manchmal verschwindet er monatelang wie ein unterirdischer Fluß, taucht tausend Meilen weiter
wieder auf: schließlich schleudert die Schwerkraft den Gejagten zurück nach Berlin. Ein paarmal zuckt er mit zerbrochenem Flügel noch hin und her, ein letztes Mal tastet er hinüber nach Frankfurt, bei der Schwester, bei den Verwandten ein Dickicht zu finden vor dem furchtbaren Jäger, der hinter ihm hetzt. Aber er findet keine Rast. So steigt er zum letztenmal in den Reisewagen (sein wahres, sein einziges Haus in all den vierunddreißig Jahren) und fährt hinaus an den Wannsee, wo er sich die Kugel in den Kopf schmettert. An einer Landstraße ist sein Grab.
Was treibt Kleist auf diesen Reisen? Oder vielmehr: wastreibt ihn? Hier hilft keine Philologie: seine Reisen sind fast alle im letzten ganz sinnlos, sie haben keine Zwecke und kaum auch nur bestimmte Ziele. Sachlich sind sie nicht zu erklären. Was biedere Forschung da Gründe nennt, sind meist nur Vorwände, künstliche Masken
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