Der Kannibalenclan
standen.
Nadeschda Spesiwtsew, 36 Jahre
Es ist ein stiller Abend in der sibirischen Ebene, auch in der bescheidenen Wohnung der Familie Spesiwtsew. Wieder einmal, wie an so vielen Abenden, ist der elektrische Strom ausgefallen, doch man hat gelernt, sich zu behelfen. In allen Räumen werden Kerzen angezündet, die man von einer Freundin erhalten hat. Diese hat sie in dem Betrieb, in dem sie arbeitet, entwendet, und für weiteren Nachschub ist stets gesorgt.
Ein kleines Mädchen von acht Jahren, ihr Name ist Nadeschda, hat ihrer Mutter gerade den Gutenachtkuss gegeben und ist mit ihrer Lieblingspuppe zu Bett gegangen.
Die Eltern Ludmilla und Nikolai Spesiwtsew sitzen vor dem Fernsehgerät. Wie jeden Abend lassen sie sich von dem seichten Programm der örtlichen Fernsehanstalt berieseln.
Gemeinsame Gespräche gibt es längst nicht mehr zwischen den Eheleuten. Was sollte man auch bereden, jeder Tag verläuft schließlich wie der andere. Während die Mutter noch einige Kekse isst, sitzt der Herr des Hauses, ein kleiner, untersetzter Mann mit Vollbart, gemütlich in seinem Sessel und trinkt eine Flasche Wodka. Es ist bereits die zweite Flasche an diesem Tag. Der Alkohol ist sein Leben, und das seit vielen Jahren.
Seine zierliche Frau mit den streng nach hinten gekämmten schwarzen Haaren hat gelernt anzupacken. Sie geht Tag für Tag arbeiten und verdient das Geld für ihre Familie. Ihr Mann Nikolai verschwendet seine Kraft lieber beim Leeren von Wodkagläsern.
Sie blickt auf die Uhr und stellt fest, dass es für sie Zeit wird, zu Bett zu gehen. Ihr Mann ist wieder einmal sturzbetrunken, und sie wird ängstlich. Lallend verspricht er ihr eine Liebesnacht, während sie bereits an den morgigen Arbeitstag denkt. Sie weiß, wie diese Nächte enden, und hofft, mit einem Abschiedskuss auf die Wange ihres Mannes ohne Schläge davonzukommen, wenn sie sich wieder einmal verweigert.
Er lacht hämisch laut auf, als sie das Zimmer verlässt, und trinkt noch einmal genüsslich aus dem vollen Glas.
»Na, dann eben nicht, wenn du meinst«, vernimmt sie noch, bevor sie hinausgeht.
Ob sie weiß, was diese Worte für ihre Tochter bedeuten?
Mütter, so sagt man, spüren die Ängste ihrer Kinder. Wie viel mehr muss diese Frau die lautlosen Tränen, die über die Wangen ihrer Tochter geflossen sind, mitempfunden haben.
Hat sie alles verschwiegen, weil sie dem Gerede der Nachbarn entgehen wollte?
Vielleicht schläft sie sofort ein, will nichts mitbekommen, alles verdrängen, was in den Nächten geschieht, wenn sie ohne ihren Mann zu Bett geht.
Der Mond schickt sein fahles Licht in das karg eingerichtete Kinderzimmer der kleinen Nadeschda Spesiwtsew. In dem kleinen Bett ragt nur ihr Köpfchen mit der an die Wange gedrückten Puppe unter der Zudecke hervor. Nadeschda ist friedlich eingeschlafen.
Doch die Nacht ist noch nicht zu Ende. Zur späten Stunde öffnet sich die Tür, und das Licht der Dielenlampe fällt ins Zimmer. In der Tür steht ihr Vater. Der wird puterrot im Gesicht und greift sich an die Hose beim Anblick dieses kleinen Mädchens, das seine Tochter ist. Schwankend betritt er den Raum und will gerade seine Hose ausziehen, doch dabei verliert er das Gleichgewicht und fällt krachend zu Boden. Laut fluchend versucht er wieder auf die Beine zu kommen. Wieder und wieder fällt er, bis er schließlich an der Kante des Kinderbettchens Halt findet.
Volltrunken lallt er auf das kleine Mädchen ein: »Sag ja nichts deiner Mama, hörst du? Sonst darfst du nicht mehr bei uns wohnen. Ich werde dich auf die Straße schicken, dich schlagen wie deine Mama, und dann bist du ganz allein. Nicht einmal deine Mutter kann dir dann mehr helfen. Hörst du?«
Das kleine Mädchen wacht schlaftrunken auf. Ihre weit aufgerissenen Augen sehen ängstlich aus. Dem Mädchen ist klar, wieder einmal ist die Zeit gekommen, wo man ihr über Stunden wehtun wird.
Schon hundert Mal hat er ihr angedroht, dass etwas Fürchterliches geschehen würde, wenn sie schreien sollte. So bleibt sie auch heute still. Sie ballt ihre kleinen Finger ungewollt zu Fäusten und erduldet die Qualen von einem Menschen, der ihr geliebter Papi sein sollte.
Fest umklammert hält sie die Puppe an ihren Körper, so als könnte sie bei ihr Trost finden. Unsagbare Schmerzen muss sie erleiden, Qualen, die niemand zu beschreiben vermag. Nackt liegt sie in dem kleinen Kinderbett und erduldet Schmerz und Pein an Leib und Seele. Noch kann sie nicht verstehen, was man ihr antut,
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