Der Kannibalenclan
noch verspürt sie nur Schmerzen. Sie weiß nicht, dass man ihre Zukunft zerstört, ihr ganzes Leben.
Endlich, der Körper ihres Peinigers fällt in sich zusammen, und die unsagbare Qual hat ein Ende. Torkelnd verlässt dieser Mensch das Zimmer seines Kindes. Ihn interessiert nicht das Schluchzen seiner Tochter, die schier endlosen Tränen; er hatte sein Vergnügen, er ist befriedigt, und so schläft er seelenruhig im Ehebett neben der Mutter dieses Kindes ein.
Das kleine Mädchen liegt noch lange wach. Es findet nicht den ersehnten Schlaf, der die Schmerzen an ihrem kleinen Körper vergessen macht. Sie sieht mit ihren traurigen Augen zur Zimmerdecke, nicht verstehend, was mit ihr und ihrem Körper geschah. Wieder einmal hat sie alles erduldet, obwohl ihre kleine Seele weint. Stunden, endlose Stunden vergehen, bis der Schlaf sie erlöst.
Am frühen Morgen – die Mutter bereitet gerade das Frühstück – kommt das kleine Mädchen, die Puppe in der Hand, in die Küche und begrüßt die verlegen wirkende Mutter.
Sie zieht an der Schürze ihrer Mutter, und Tränen laufen über ihr kindliches Gesicht. Die beiden sprechen kein Wort, die Mutter küsst ihr Kind liebevoll auf die Wange und streicht ihr mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck durchs Haar.
Noch vergehen viele Jahre, bis die Mutter dieses Kindes ihren Mann auf die Straße setzt. Wütend, die halbe Wohnungseinrichtung zerschlagend, verlässt er das Haus, das er nie wieder betreten wird. Von diesem Tag an wächst Nadeschda, das zierliche Mädchen, ohne ihren lieblosen, perversen Vater auf.
Nun könnte sie Kind sein, doch die Ängste der Vergangenheit sind stärker und holen sie immer wieder ein. Selten sieht man sie lachen, wenn sie mit ihren gleichaltrigen Freundinnen auf dem Spielplatz spielt. Sie kommt in die Pubertät, und in der Schule erfährt sie, was Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit bedeuten. Doch ihr Körper und ihr Geist sträuben sich gegen alles, was man Liebe nennt. Niemandem kann sie erzählen, was ihr widerfahren ist.
Ihr Bruder Sascha, mit dem sie wenig Gemeinsamkeiten hat, betrachtet alle Mädchen, so auch seine Schwester, als Freiwild.
Sie haben die Männer zu verwöhnen, und wenn dies nicht so klappt, gibt es eben Hiebe. Obwohl Sascha viele Jahre jünger ist als seine Schwester, versteht er es, die gesamte Familie zu tyrannisieren. Während er genauso wie sein Vater keiner Arbeit nachgeht, muss Nadeschda schon früh lernen, ihrer Mutter bei der täglichen Arbeit zu helfen.
Mit vierzehn Jahren kommt sie aus der Schule. Durch die Vermittlung ihrer Mutter findet sie Arbeit beim städtischen Gericht, und schon früh bemerkt sie, dass die Männer sie mit gierigen Blicken verfolgen. Die Arbeit bei Gericht gefällt Nadeschda. Man schenkt ihr Beachtung, und sie versteht es inzwischen auch, ihre weiblichen Reize einzusetzen. Noch begaffen sie sie nur, die alten Herren, die in diesem Haus arbeiten. Doch es dauert nicht lange, bis man sich über das Jugendschutzgesetz hinwegsetzt und seinen Begierden freien Lauf lässt. Noch hat sie sie nicht gelernt, die ungeschriebenen Gesetze der Vorgesetztenlaufbahn, und so sieht man sie mit dem Assessor wie mit den Herren des gehobenen Dienstes.
Dass dies nicht gut gehen kann, lernt sie erst viel später, als sich ein Herr für sie interessiert, der das größte Büro des Hauses hat und vom Alter her ihr Großvater sein könnte.
Unmissverständlich gibt er ihr zu verstehen, dass sie nur für ihn da zu sein habe.
Nadeschda, die Neue in dem riesigen Gerichtsgebäude, ist jung, hübsch und begehrenswert, doch ihre großen schwarzen Augen wirken hart: hart gegenüber sich selbst und gegenüber anderen. Vor allem die älteren Herren lernen ihre Gesellschaft zu schätzen. Sie bekommt Einladungen von bekannten Persönlichkeiten. So lernt sie einen einflussreichen Politiker kennen, der ihr jeden Wunsch von den Augen abliest. Seine sexuellen Träume erfüllt sie gern; sie hat gelernt, dass alles zwei Seiten hat im Leben, wie sie sagt. Was diese älteren Herren von ihr wollen, hat sie in ihrer Kindheit bereits erfahren müssen. Nun spürt sie, dass sie auf diese Weise gegenüber ihren älteren Kolleginnen Vorteile herausschlagen kann, und das macht sie stolz.
Jahre vergehen, bis ihr Doppelleben ans Tageslicht kommt.
Sie ist inzwischen sechsunddreißig Jahre alt. Die Nachricht über das Leben der Familie Spesiwtsew schlägt ein wie eine Bombe. Alle distanzieren sich von ihr, der Schwester eines Mörders, der
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