Der Kannibalenclan
ist nicht gestorben, sie ist, so glaube ich zumindest, in Ruhe eingeschlafen. Sie ist nicht wegen ihrer zahlreichen Verletzungen von uns gegangen, ich glaube eher, sie wollte alles vergessen, nicht mehr auf dieser Welt leben, die ihr so viel Leid gebracht hat. Doch nun schläft sie für immer, und das ist gut so. Ich glaube nicht, dass sie das Erlebte je hätte verdrängen oder vergessen können. Hunderte von Menschen, ob arm oder reich, ob jung oder alt, habe ich schon sterben sehen, aber nie, niemals einen Menschen wie dieses kleine Mädchen. Ich bin überzeugt, dass sie ihren inneren Frieden gesucht und im Tod gefunden hat. Wenn es da oben einen Gott gibt, was ich glaube, dann wird er sie mit offenen Armen empfangen. Doch nun gehen Sie, ich möchte nicht mehr über Olga sprechen. Zu sehr habe ich dieses Mädchen in mein Herz geschlossen, so wie noch keinen Patienten in meinem ganzen langen Leben.«
Noch ein Blick auf das leere Bett. Längst hat der Besucher vergessen, was er noch fragen wollte, er schleicht durch die kahlen Gänge des Krankenhauses zum Ausgang. Vor dem Haus bringt die hoch stehende Sonne mit ihren fast aggressiven Strahlen den Besucher wieder in die Realität zurück. Er sieht nicht die vorbeigehenden Menschen, gedankenverloren träumt er von einem Mädchen, das längst von uns gegangen ist.
Die Suche nach den drei Hauptverdächtigen Kurze Zeit nach der Vernehmung der jungen Olga beginnen die Polizei und die Staatsanwaltschaft, fiebrig nach dem Kannibalenclan zu suchen. Sascha Aleksander hatte die Wohnung über den Balkon verlassen, als er bemerkte, dass man die Türe aufzubrechen versuchte. Die Mutter Ludmilla Spesiwtsew und die Tochter Nadeschda befanden sich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Wohnung, sie gingen ihrer Arbeit nach – im Gerichtsgebäude. Sie müssen erfahren haben, dass man in ihre Wohnung eingedrungen war. Weshalb sonst hätten sie sich für eben diesen Nachmittag plötzlich frei genommen und wurden zunächst nicht mehr gesehen?
Auf der Suche nach der verdächtigen Familie Spesiwtsew war ein junger Beamter namens Gurjew F. (Name wurde auf seinen Wunsch geändert) beteiligt, der sich noch sehr gut an die Verhaftung des Familienclans erinnert: »Was glauben Sie, was bei uns auf der Polizeistation los war, als wir den Auftrag bekamen, die drei festzunehmen. Nicht nur unser Vorgesetzter wusste, wie problematisch die Verhaftung werden könnte.
Auch wir kleinen Beamten hatten längst erfahren, wer die beiden Frauen waren, oder besser, welche Verbindungen sie hatten. Aus diesem Grunde wollte sich auch kein Freiwilliger finden lassen, der die beiden Frauen festnahm. Längst wusste jeder Polizist in ganz Nowokusnezk, was man in der Wohnung gefunden hatte.«
»Wieso wurde für die Verhaftung ein Freiwilliger gesucht?«
»Na, warum wohl, jeder der Beamten wusste, dass die beiden Frauen bei Gericht arbeiten und beste Verbindungen haben«, versucht er die Situation verständlich zu machen.
»Aber es ist doch völlig egal, wo jemand arbeitet, auch wenn es bei Gericht ist.«
»Wo Sie herkommen, ist das vielleicht so. Aber bei uns ist das anders. Ich wollte diese heikle Aufgabe nicht übernehmen.
Aber mein Chef gab mir den Befehl. Also musste ich es tun.«
»Verzeihung, aber es ist noch immer nicht zu begreifen, was an dieser Arbeit so schwierig gewesen sein soll«, will man wissen.
»Nein?«, fragt er verständnislos und fährt mit seinem Bericht fort: »Zunächst gingen wir zu der Wohnung, wo alles geschehen war. Die Wohnung blieb ja offen. Wir dachten, vielleicht sind sie ja dort wieder aufgetaucht. Doch sie hatten die Wohnung anscheinend nicht mehr betreten. Wen wir auch fragten – in der ganzen Nachbarschaft hatte sie niemand gesehen. Aber so wie die Staatsanwaltschaft ›aufgeräumt‹
hatte, da hätte sowieso niemand mehr wohnen können. Also wurde es notwendig, die Wohnung von Nadeschda Spesiwtsew aufzusuchen. Uns war ganz schön mulmig, als wir vor ihrer Wohnung standen. Mein Kollege klingelte – nur einmal. Wir waren erleichtert, dass uns niemand die Tür öffnete. Wissen Sie, sonst klingeln wir bei einer Festnahme nicht. Wir treten die Tür ein, und dann sehen wir, wer sich in der Wohnung aufhält. Als wir zu unserer Dienststelle zurückkamen und den Vorfall meldeten, wurde unser Chef sehr ungehalten. Er schrie uns an: ›Dann geht ihr zum Gerichtsgebäude, da arbeiten doch die beiden Täterinnen. Wenn sie anwesend sind, nehmt ihr sie einfach fest. Oder soll ich noch
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