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Der Kardinal im Kreml

Der Kardinal im Kreml

Titel: Der Kardinal im Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clancy Tom
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erwiderte der Wärter und zeigte ihm die Uhr an seinem Handgelenk. »Sehen Sie doch selbst, wie spät es ist. Essen Sie rasch; bald geht es wieder zum Verhör.« Der Mann beugte sich vor. »Warum sagen Sie ihnen denn nicht einfach, was sie hören wollen, Genosse?«
    Â»Weil ich kein Verräter bin!«
    Â»Wie Sie wollen. Langen Sie zu.« Die Zellentür fiel ins Schloß.
    Â»Ich bin kein Verräter«, wiederholte Filitow, als er allein war. »Nein«, hörte das Mikrophon, »ich bin keiner.«
    Â»Langsam wird’s«, meinte Watutin.
    Die Isolierhaft bewirkte im Endeffekt, was der Doktor mit der sensorischen Deprivation erreichen wollte: Der Gefangene verlor den Kontakt zur Realität, wenngleich sehr viel langsamer als Swetlana Wanejewa. Seine Zelle befand sich im Innern des Gebäudes; das Wechselspiel von Tag und Nacht bekam der Häftling also nicht mit. Die nackte Glühbirne brannte unentwegt. Nach wenigen Tagen hatte Filitow alles Zeitgefühl verloren. Dann zeigten seine Körperfunktionen erste Unregelmäßigkeiten. Man veränderte die Abstände zwischen den Mahlzeiten. Sein Körper spürte, daß etwas nicht stimmte, doch der Häftling war so desorientiert, daß er in einen der Geisteskrankheit vergleichbaren Zustand verfiel.
    Eine klassische Technik, der nur wenige Individuen länger als zwei Wochen widerstehen konnten, und in solchen Fällen hatte man meist entdeckt, daß die erfolgreiche Resistenz unentdeckten Außenreizen wie Abwasser- oder Verkehrsgeräuschen zuzuschreiben war. Allmählich hatte man im Zweiten Direktorat des KGB gelernt, alle diese Störfaktoren auszuschalten. Der neue Sonderzellenblock war gegen die Außenwelt völlig schallisoliert. Um Gerüche zu eliminieren,
hatte man die Küche ein Stockwerk höher eingebaut. Dieser Teil des Lefortowo-Gefängnisses reflektierte die Erfahrung von Generationen im Brechen des menschlichen Willens.
    Besser als die Folter, dachte Watutin, denn die Folter zog unweigerlich auch die Vernehmenden in Mitleidenschaft. Wer auf diesem Gebiet zu große Fähigkeiten entwickelte, wurde allmählich geistig labil. Man konnte sich auf die Vernehmungsergebnisse nicht mehr verlassen und mußte den KGB-Offizier austauschen und gelegentlich sogar ins Krankenhaus schicken. In den dreißiger Jahren hatte man solche Männer einfach erschossen und durch andere ersetzt, bis die Interrogatoren nach kreativeren, intelligenteren Methoden zu suchen begannen. Die neuen Techniken fügten dem Subjekt keinen bleibenden körperlichen Schaden zu, und die bei der Vernehmung entstandenen seelischen Störungen wurden anschließend sogar behandelt. Die im Auftrag des KGB ›behandelnden‹ Ärzte waren nun in der Lage, Landesverrat als Symptom einer schweren Geisteskrankheit zu diagnostizieren, die einer radikalen Therapie bedurfte. So war die Angelegenheit für alle Beteiligten angenehmer: Wer einem tapferen Gegner Schmerzen zufügte, konnte Schuldgefühle entwikkeln, doch wer einem Geisteskranken half, tat etwas Gutes.
    Und dieser Fall von Geisteskrankheit ist ganz besonders ernst, dachte Watutin sarkastisch und schaute über die Glasfaserverbindung in Filitows Zelle.
    Wie lange arbeitest du schon für die Amerikaner? Seit dem Tod deiner nächsten Angehörigen? So lange? Fast dreißig Jahre ... ist das denn möglich? fragte sich der Oberst vom Zweiten Direktorat. So lange hatte sich Kim Philby nicht gehalten, und Richard Sorges Karriere war zwar glänzend, aber kurz gewesen.
    Der Oberst schüttelte den Kopf. Filitow war dreifacher Held der Sowjetunion, sein Kopf hatte die Titelseiten von Zeitschriften geziert. Durfte die Öffentlichkeit jemals erfahren, was er getan hatte? Wie würde das sowjetische Volk
reagieren, wenn es hörte, daß aus dem alten Mischa, dem Helden von Stalingrad, ein Verräter an der Heimat geworden war? Der Effekt dieser Enthüllung auf die kollektive Moral mußte erst ausgelotet werden.
    Nicht mein Problem, sagte er sich und beobachtete den alten Mann durch das High-Tech-Guckloch. Filitow war bemüht, sein Essen herunterzubekommen, wußte nicht, daß seit dem Frühstück – aus naheliegenden Gründen unterschieden sich die Mahlzeiten nicht voneinander – erst neunzig Minuten vergangen waren.
    Watutin stand auf und streckte sich, um seine Rückenschmerzen zu lindern. Eine

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