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Der Kardinal im Kreml

Der Kardinal im Kreml

Titel: Der Kardinal im Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clancy Tom
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Nebenwirkung der neuen Technik war, daß sie auch den Tagesrhythmus der Vernehmenden durcheinanderbrachte. Es war kurz nach Mitternacht, und Watutin hatte im Lauf der vergangenen sechsunddreißig Stunden gerade sieben Stunden Schlaf gefunden. Aber er kannte wenigstens die Uhrzeit, den Tag und die Jahreszeit. Filitow, da war er sicher, wußte das nicht. Er beugte sich noch einmal vor und sah zu, wie das Subjekt die Schüssel Kascha (Buchweizengrütze) leerte.
    Â»Holt ihn raus«, befahl Oberst Klementi Wladimirowitsch Watutin und ging in den Waschraum, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Er schaute in den Spiegel: rasieren überflüssig. Dann überzeugte er sich davon, daß seine Uniform perfekt saß. Gesicht und äußere Erscheinung des Vernehmenden waren die einzigen Konstanten in der wirren Welt des Häftlings. Watutin studierte sogar im Spiegel seine Miene ein: stolz, arrogant, aber auch mitfühlend. Er schämte sich des Anblicks nicht. Du bist ein Fachmann, sagte er sich, kein Barbar oder Perverser, sondern ein Mann, der eine schwierige und wichtige Aufgabe erledigt.
    Watutin saß wie immer im Vernehmungszimmer, als der Gefangene hereingeführt wurde, schien wie immer beschäftigt zu sein und hob leicht überrascht den Kopf, als wollte er sagen: Ach, sind Sie schon wieder dran? Filitow setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Gut, dachte
Watutin. Man braucht dem Subjekt nicht zu sagen, was es zu tun hat. Es konzentrierte sich auf seine einzige Realität: Watutin.
    Â»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen«, sagte er zu Filitow.
    Â»Es ging«, lautete die Antwort. Die Augen des alten Mannes waren trüb, hatten nicht mehr den Glanz, den Watutin bei den ersten Sitzungen bewundert hatte.
    Â»Ich hoffe doch, daß Sie anständig verpflegt werden?«
    Â»Ich habe auch schon besseres Essen vorgesetzt bekommen.« Ein müdes Lächeln; dahinter noch ein wenig Trotz und Stolz. »Aber auch schon schlechteres.«
    Watutin schätzte leidenschaftslos die Stärke des Gefangenen ab; sie hatte nachgelassen. Du weißt, daß du verlieren mußt, Filitow.
    Â 
    Es ist doch sinnlos, Mischa, dachte Filitow. Die Zeit ist auf seiner Seite – er ist Herr über die Zeit. Er hat alles darauf angelegt, dich zu zerbrechen. Er ist am Gewinnen. Das weißt du.
    Genosse Hauptmann, warum denken Sie solchen Unsinn? fragte eine vertraute Stimme. Auf dem Rückzug von Brest-Litowsk bis Wjasma wußten wir, daß wir verlieren, aber aufgegeben haben wir deshalb nicht. Sie haben der deutschen Armee getrotzt. Da können Sie doch bestimmt diesem schleimigen Tschekisten trotzen?
    Danke, Romanow.
    Wie sind Sie nur ohne mich ausgekommen, mein Hauptmann? fragte die Stimme lachend.
    Â 
    Watutin sah, daß sich etwas verändert hatte. Die Augen waren klar, der müde alte Rücken reckte sich.
    Was hält dich aufrecht, Filitow? Der Haß?
    Â»Sagen Sie«, meinte Watutin, »warum hassen Sie die Heimat eigentlich so?«
    Â»Falsch«, erwiderte Filitow. »Ich habe für die Heimat getötet, geblutet und gebrannt. Das habe ich für mein Land getan, aber nicht für Ihresgleichen.« Filitow war geschwächt,
aber seine Augen flammten trotzig. Watutin blieb ungerührt.
    Fast hatte ich ihn soweit, aber es kam etwas dazwischen. Wenn ich erst weiß, was das ist, Filitow, habe ich dich! Irgendwie ahnte Watutin, daß er kurz vorm Ziel war.
    Das Verhör ging weiter. Diesmal konnte Filitow noch standhalten, wahrscheinlich auch die nächsten Male, aber seine körperliche und seelische Kraft ließen nach. Das wußten beide. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Beide Männer nahmen an, daß Watutin Herr über die Zeit war. Doch das war ein Irrtum.
    Â 
    Die neue Blitzmeldung aus Amerika, diesmal von Platonow, überraschte Gerasimow. Der Vorsitzende entschlüsselte den ersten Satz persönlich und stellte fest, daß er vor einem Maulwurf gewarnt wurde.
    Ein ausländischer Agent im KGB? fragte sich Gerasimow. Wie weit oben? Er rief seinen Sekretär und ließ sich die Akten von Agent Cassius und Ryan, I. P., CIA, bringen. Wie üblich lagen die Hefter bald auf seinem Tisch. Er ließ Cassius für den Augenblick beiseite und konzentrierte sich auf Ryan.
    Die Akte enthielt einen sechsseitigen, erst vor sechs Monaten auf den neuesten Stand gebrachten Lebenslauf und Originalzeitungsausschnitte mit

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