Der Kartograph
zerzaust vom Laufen, der Gürtel seines Rocks hatte sich halb gelöst, die Strümpfe und Schuhe waren von Dreckspritzern übersäht. Doch dann entdeckte er das energische Kinn, den Mund, der von Sinnlichkeit, aber auch Entschlossenheit kündete. Vor allem aber beeindruckten ihn der Ausdruck der braunen Augen dieses Mannes. In ihnen glomm ein Funke, den er einst auch gekannt und den das Leben ihm inzwischen ausgetrieben hatte. Jener Funke, der einem Mann das Gefühl gab, lebendig zu sein, zu fühlen, zu streben, die Wirklichkeit des Lebens und der Dinge nicht nur hinzunehmen, sondern sie zu verstehen, zu durchdringen, sie sich zu Eigen zu machen, um sie dann zu gestalten, zu prägen und zu verändern. Er sah den Forscher, den Abenteurer, für den kein Hindernis zu hoch und kein Weg zu weit war, um sein Ziel zu erreichen. Er lächelte ihm zu.
«Ihr seid etwas derangiert, Magister Waldseemüller, aber es ist mir ein Vergnügen, Euch kennenzulernen. Wollt Ihr nicht etwas verschnaufen, ehe ich Euch zeige, was ich mitgebracht habe?»
«Mein lieber Viator, ich flehe Euch an, tut unserem Ilacomylus diesen Tort nicht an. Er wartet schon so lange. Es fehlte nicht viel und er hätte mit seinen eigenen Fingernägeln vor lauter Ungeduld Rillen in die Steine dieser Bibliothek gekratzt.» Jetzt erst sah Martin Waldseemüller, dass sich auch Gauthier Lud im Raum befand. Die Art, in der er mit Pélerin sprach, ihn ansah, machte schnell deutlich, dass sich diese beiden Männer schon lange kannten, sich mochten und einander vertrauten. Es war ein Verhältnis, wie es nur durch unzählige durchdiskutierte Nächte zustande kommt.
Martin Waldseemüller verbeugte sich, noch immer schwer atmend. «Verzeiht meinen Aufzug und mein Auftreten, aber Gauthier Lud hat Recht, ich warte schon so lange. Ich flehe Euch an, habt Erbarmen und zeigt mir, was Ihr in diesem ledernen Portefeuille verborgen habt, das da auf dem Tisch liegt.»
Pélerin wandte sich lachend an Lud. «Ich sehe schon, auch wenn er völlig außer Atem ist, scheint unser Magister hier ein guter Beobachter zu sein. Nun, Ihr habt das Lied seiner Fähigkeiten ja ohnehin schon in den höchsten Tönen gesungen. Und auch René von Lothringen ist sehr von ihm angetan. Ihr habt etwas an Euch, mein Lieber, das die Menschen überzeugt. So will ich denn auch nicht länger zögern.»
Gauthier Lud hob die Hand. «Halt, zunächst lassen wir etwas Wein und einige Speisen kommen. Ihr müsst hungrig und durstig sein nach der Reise von Toul hierher.»
Pélerin nickte. Er verkniff sich die Bemerkung, dass er geradewegs aus Paris kam und deshalb einen wesentlich weiteren Ritt hinter sich hatte, als Lud glaubte. Nachdem er diesem Ilacomylus nun begegnet war, begriff er, warum dessen Vorhaben für so viel Aufsehen sorgte. Das war kein Spinner, sondern ein Mann mit einer besonderen Gabe. Er konnte nicht nur in Wenn-Dann-Kategorien denken, sondern, wenn es sein musste, auch quer zum Strom der Logik. Aus diesem Stoff waren große Künstler und Ausnahmetalente geformt. Wenn der Herzog von Lothringen mit seiner Einschätzung richtig lag – und das tat er meistens –, dann war dieser Ilacomylus beides.
Er öffnete das Portefeuille und zog einige Karten hervor, auf die sich Martin Waldseemüller sofort stürzte. Seine Hände zitterten, so glücklich war er, sie endlich in Händen zu halten. Da waren sie, die Karten, auf die er so lange gehofft hatte. Sogar noch mehr. Er stieß einen Freudenruf aus. «Welche Schätze, hier ist sogar die Portolankarte von Pedro Reinel. Hier, seht Ihr, hier zeigen sie einen Teil des Südostens der neuen Welt jenseits des Atlantiks. Die Entdeckungsreisen der Brüder Miguel und Kaspar Corte-Real müssen bis jenseits des 60. nördlichen Breitengrades geführt haben! Wie hat René von Lothringen das nur wieder geschafft?» Waldseemüllers Gesicht glühte vor Aufregung.
«Ihr seht, Viator, dieser Mann ist sehr begeisterungsfähig», meldete sich Lud zu Wort.
«Oh, ich denke, das lief über den Herzog de Montmorency, genauer über dessen Patensohn», antwortete Pélerin. «Es ist allerdings nur eine eiligst gefertigte Kopie.»
Martin Waldseemüller war schon längst für jede Antwort verloren. «Schaut Euch diese schrägen Meridiane an, diese schiefen Breitengrade Reinels. In den nördlichen Breiten haben sie eine Neigung von, nun, sagen wir, geschätzten gut zweiundzwanzig Grad. Das ist ein völliges Novum. So etwas habe ich noch niemals gesehen! Wenn ich das richtig verstehe,
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