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Der Kartograph

Der Kartograph

Titel: Der Kartograph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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trieb.
    Die Sonne wärmte sein Gesicht und lockerte die steifen Glieder. Er hielt inne, um die beeindruckende Kulisse zu betrachten, dieses weite Tal. Direkt neben seinem rechten Fuß schob sich ein Schneeglöckchen durch den Harsch, der den Boden noch überall bedeckte. Er bückte sich, um die weiße Blüte zu betrachten, dieses Wunder der Natur, das mit seinen zarten Blättern und Blüten selbst den Winter überwand. Die Blätter erinnerten ihn an die Smaragdaugen von Marie Grüninger. Oder Schott, wie sie jetzt hieß. Warum nur konnte er sie nicht vergessen? Immer und immer wieder schoben sich die Bilder und die Gefühle jener einen Nacht in seine Gedanken, lenkten ihn von seinen Studien ab. Es gab unzählige Dinge, die ihn jeden Tag an sie erinnerten, so wie diese kleine Blume. In der Nacht waren es die Sterne. Eigentlich sprach alles von ihr, erzählte von einer Leidenschaft, die einfach nicht aufhören wollte zu brennen.
    Erneut versuchte er entschlossen, sich abzulenken. Da hörte er eine Stimme seinen Namen rufen. Er schaute auf, überrascht, wie weit er schon gegangen war. Er drehte sich um. Es war Pierre de Blarru, einer der Dichter in Saint-Dié, Magister der Philosophie und Verfasser von 5000 lateinischen Versen, die von dem großen Sieg des Herzogs von Lothringen bei Nancy über Karl den Kühnen von Burgund berichteten, die Dichtung Liber Nanceidos . Der Sieg war lange her, 1477, um genau zu sein. Doch er hatte die Expansionsgelüste von Karl dem Kühnen gestoppt. Das war ebenfalls ein Manuskript, das die Druckerei von Saint-Dié herausbringen konnte. Blarru rühmte sich immer wieder mit einem Augenzwinkern, dass er in Paris François Villon kennengelernt hatte, ja sogar mit ihm befreundet war. Villon, ein berühmt-berüchtigter Mörder, Dichter und Vagant, dessen Lieder und Balladen überall vom Volk gesungen wurden und von einem abenteuerlichen Vagabundenleben zwischen kriminellem Milieu und Fürstenhöfen kündeten. Mit seinem beißenden Spott für Adel und Klerus hatte sich der einstige Priester-Schüler viele Feinde gemacht. Dieser runde, bieder wirkende Dichter, schon jenseits der 60, der mit Schweiß auf der Stirn hinter ihm her schnaufte, und Villon, der erklärte Feind des französischen Königs? Er musste schmunzeln.
    «Bleibt doch endlich stehen», japste Blarru. «Habt Ihr mich denn nicht rufen hören? Diese Rennerei ist einfach nichts mehr für mich. Doch ich wollte Euch unbedingt die Nachricht bringen, ich weiß, wie sehr Ihr darauf wartet.» Blarrus runde Bäckchen ähnelten aufgrund ihrer roten Farbe in diesem Moment noch mehr kleinen Äpfelchen als sonst.
    Martin Waldseemüller blieb stehen und schaute dem Dichter erwartungsvoll entgegen. Nicht alle am Gymnasium Vosagense hatten ihn so offen und vorurteilsfrei aufgenommen wie Blarru. «Pélerin ist angekommen, mit einer dicken Tasche voller Dokumente. Er sagt, es ist auch einiges für Euch dabei, mit den besten Grüßen unseres großmütigen Beschützers und Mäzens, des Herzogs von Lothringen.»
    Ehe Blarru sich wehren konnte, hatte Martin Waldseemüller ihn umarmt. «Verzeiht, wenn ich nicht auf Euch warte! Danke für die Nachricht. Das vergesse ich Euch nie.» Mit diesen Worten spurtete er zurück in Richtung Saint-Dié.
    «Sie sind in der Bibliothek». Jean Blarru blickte Ilacomylus kopfschüttelnd nach. Eigentlich war dieser Kartograph doch gar nicht mehr so jung. Dennoch benahm er sich wie ein Füllen, das zum ersten Mal aus dem Stall auf eine sonnenbeschienene Wiese gelassen wird. Und während er dem davonstürmenden Waldseemüller nachsah, überlegte er, wie er selbst in dessen Alter gewesen war. Nein, er konnte sich nicht daran erinnern, jemals freiwillig so schnell gelaufen zu sein. Glücklicherweise. Sonst hätte er vielleicht auch als Verbrecher geendet wie François Villon. Ja, um ein erfolgreicher Verbrecher zu sein, musste man schnell laufen können. Pierre de Blarru war sich im Übrigen durchaus klar darüber, dass ihm die Verbindung zu Villon niemand so recht zutraute. Er glaubte es selbst ja kaum.
    Martin Waldseemüller war völlig außer Atem, als er endlich die Stufen zur Bibliothek des Stiftes von Saint-Dié emporgestiegen war. Jean Pélerin musterte ihn mit Interesse. So sah also der Mann aus, der auf dem besten Wege war, einige der einflussreichsten Potentaten Europas in Aufregung zu versetzen. In seinem momentanen Zustand machte er nicht viel her. Er war etwa mittelgroß, die schulterlangen, lockigen Haare

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