Der Kartograph
dann ist das betreffende Gebiet so weit nach links zu drehen, bis diese Linie vertikal steht. Seht Ihr, dann verläuft die Generalrichtung der Küste vertikal nach Nord-Nord-West. Ein genialer Schachzug. Früher musste man dafür zwei Breitenskalen gegeneinander verschieben, Claudius Clavius hat das 1427 gemacht. Erinnert Euch, auch die Verdoppelung von Äquator und Wendekreis auf der Karte des Spaniers Guitérrez dienten dem Versuch, mehr perspektivische Genauigkeit zu erzielen.
Jean Pélerin lächelte. «Nun, vergesst nicht, dass auch ich eine Arbeit über die Perspektive verfasst habe. Ich bin mir sicher, Gauthier Lud hat Euch davon berichtet.»
Martin Waldseemüller blickte ihn erschrocken an. «Verzeiht, ich verliere vor lauter Freude noch meinen Kopf. De artificiali perspectiva ist ein herausragendes Werk. Niemand, der sich mit einer Form der Darstellung befasst, kann künftig daran vorbei. Unser Freund Lud hat mir erlaubt, einen kleinen Einblick zu nehmen in jene Kapitel, die Ihr ihm habt zukommen lassen. Eure Abhandlung ist dazu angetan, das Verhältnis von Kunst und Raum zu revolutionieren. Ihr werdet nicht nur die Art der Darstellung für alle Zeiten verändern, sondern auch die Art der Wahrnehmung. Schon allein deshalb ist diese Schrift so unglaublich wertvoll für mich. Denn eine Karte lebt von der richtigen Darstellung der Perspektive. Stimmt diese nicht, führt sie den Betrachter und den Seefahrer in die Irre. Keine der bisherigen Karten hat meines Erachtens das Problem der Darstellung der Erdkrümmung zufriedenstellend gelöst. Allein das Kapitel zwei Eures Werkes: Ihr seid der Erste, der den Begriff des Horizontes in seiner aus der Astronomie entlehnten Bedeutung in die Perspektivtheorie einführt. Besonders wichtig ist das, was Ihr zu der Linie sagt, die durch Hauptpunkt und Distanzpunkte gezogen werden kann, im perspektivischen System die ‹linea pyramidalis›. Ihr bezeichnet sie als ‹linea orizontalis›, «weil sie die aufgehende Sonne zeigt und die untergehende verbirgt. Und immer entspricht sie dem Auge des Menschen, wo er sich auch gerade befinden mag, ob er auf einen hohen Turm klettert oder auf den Gipfel eines Berges. Sofern ich mich an Eure Ausdrucksweise richtig erinnere.»
Pélerin verbeugte sich. «Es ist ein perfektes Zitat. Ich danke Euch für Euer Lob. Es sollte mich freuen, wenn sich Eure und meine Arbeit gegenseitig befruchten. Hoffentlich haben wir in den nächsten Tagen noch oft Gelegenheit, uns auszutauschen.»
Martin Waldseemüller nickte. Er entrollte schon die nächsten Dokumente. Am Ende standen ihm Tränen in den Augen. Da waren die Beschreibungen der Reisen John Cabots. Da war die Kopie der Karte, die Kolumbus persönlich 1498 herausgebracht hatte, dazu die Kopie der ersten Weltkarte, die Juan de La Cosa anhand der ersten beiden Fahrten von Kolumbus auf Rinderhaut geschaffen hatte, außerdem die so genannte Cantino-Karte von 1502 über Vespuccis Fahrt, dann die Karte eines anonymen Italieners, die nach dem Stand der Eintragungen offenbar 1502/1503 gefertigt sein musste. Sogar eine Kopie der Karte des Vesconte de Maggiolo, von der er so viel gehört hatte, war dabei. Und hier die Planisphäre von Nicolo Caverio; er fasste es kaum, denn sie konnte erst kürzlich entstanden sein. Waldseemüller musste sich setzen, seine Knie zitterten.
Dann nahm er ein Glas mit Rotwein und trank es in einem Zug leer. «Grüßt diesen wunderbaren Mann, den Herzog von Lothringen, sagt ihm, er ist ein Zauberer und kann sich meiner Ergebenheit bis ans Ende seines Lebens gewiss sein. Ich bin sein Diener für ewig.» Er schaute sich suchend um. «Aber die Quatuor navigationes , wo habt Ihr sie?»
«Ich sehe, Ihr seid ein Mann, der nie genug bekommt. Ist das nicht schon einmal eine veritable Arbeitsgrundlage? Die Lettera konnte ich Euch noch nicht mitbringen. Doch Gauthier Lud hatte Recht, ich verspüre nun wirklich Hunger. Setzen wir uns zu unserem Freund hier.»
Martin Waldseemüller hielt es kaum an seinem Platz. Ungeduldig rutschte er hin und her. Es drängte ihn mit allen Fasern, die wertvollen Karten in seiner Kammer in aller Ruhe zu betrachten. Er gab sich jedoch alle Mühe, höflich zu bleiben und seine tiefe Enttäuschung bezüglich der Quatuor navigationes nicht zu zeigen. Der Herzog von Lothringen hatte dem Neuen im Kreis seiner Gelehrten jetzt schon ein fürstliches Geschenk gemacht, mehr als er jemals zu hoffen gewagt hätte.
«Ihr habt Recht, nun kann ich mich an die Arbeit machen
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