Der Kartograph
Lothringen ebenfalls mit einem imposanten Kreuzgewölbe ausgestattet worden. Es ruhte abwechselnd auf dicken und dann wieder fast zierlichen Halb-Säulen und Pfeilern. Drei Apsiden verlängerten und begrenzten das Haupt- und die Seitenschiffe. Es war keine prunkvolle Kirche, doch sie wirkte in ihrer Bescheidenheit harmonisch und ansprechend. Ihr gegenüber thronte die große Stiftskirche wie ein wachsamer Adler in seinem Horst.
In der Mitte des östlichen Kreuzgangs, der den Innenhof zwischen den beiden Gotteshäusern und dem Gebäude der ehemaligen Benediktiner-Abtei umrahmte, befand sich noch eine Besonderheit – eine steinerne Prediger-Kanzel auf einem hochgemauerten Sockel. Zu bestimmten Gelegenheiten fanden in diesem Innenhof auch Gottesdienste statt. Das erschien Martin Waldseemüller sehr passend. Es erinnerte ihn an jene Zeiten, als die ersten Christen zu einer verfolgten Minderheit gehörten, als der Himmel noch das einzige Dach war, das sie für ihre Kirchen brauchten.
Die Sonne lag über dem Stift und seinem Innenhof, er fühlte den Frühling kommen, spürte ihn in allen Gliedern. Er ging die steilen Stufen des Turms hinunter, passierte das große Tor und stand auf dem Vorplatz. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er kniff die Augen zusammen. Dem Stand nach musste es früher Nachmittag sein. Er brauchte Bewegung, schon zu lange, zu viele Stunden, zu viele Tage hatte er in der Bibliothek gesessen, gewartet, gehofft und immer und immer wieder dieselben Stellen gelesen, während es draußen schneite, regnete, stürmte oder während sich der Nebel zusammenzog, Saint-Dié in dunkle Schwaden hüllte und sich wieder auflöste. Er hatte gelesen, immer wieder gelesen, mit den anderen diskutiert, hin- und her gerechnet. Die Berichte der großen Weltensegler und Entdecker auf jedes noch so kleine Detail abgeklopft, das ihm vielleicht einen zusätzlichen Hinweis liefern könnte, von Kolumbus, von den Brüdern Real, von Vasco da Gama, natürlich von Vespucci. So lange, bis er sie auswendig konnte.
Die Bibliothek hatte die wunderbarsten astrologischen, kosmographischen, mathematischen und geologischen Manuskripte zu bieten. Marco Polos Reisebericht lag hier, Ovid, Cicero, die alten griechischen Dichter, Sappho, Euripides, dann Aristoteles, Demosthenes, Pythagoras, Sokrates … Dieser interessierte, belesene und kultivierte Herzog war ein Segen für die Wissenschaft. Nichts war für ihn unmöglich zu beschaffen, hieß es. René hatte den Ruf, ein geschickter Diplomat und harter Verhandlungspartner zu sein, eine Art graue Eminenz und dazu von hohem Geblüt. Er gehörte zu den Edlen Europas, hatte manchem einen Gefallen erwiesen, einen kleinen hier, einen größeren dort. Seinen Lohn bekam er immer wieder in Form eines wertvollen antiken Manuskripts oder der Abschrift einer Veröffentlichung über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse. Die künftige Druckerei von Saint-Dié würde auf einen reichen Schatz an Vorlagen zurückgreifen können. Die Bibliothek stand jener der Kartause in Basel um nicht viel nach. Natürlich war unter den Werken auch eine Ausgabe der ptolemäischen Geographia, wunderbar von Hand geschaffen, reich verziert. Doch sie entsprach in vielen Teilen nicht dem Original. Davon war Gauthier Lud überzeugt. Immer und immer wieder hatten sie abends bei Kerzenschein darüber diskutiert. Und Vespucci war immer noch der Einzige, der bei seinen Entdeckungen von «Festland» sprach. Er musste sich sehr sicher sein.
Saint-Dié war eingemauert wie eine Festung. Die Klosteranlage mit der großen Kathedale und der kleineren Kirche Notre Dame befanden sich im Nordosten. Dort, innerhalb einer eigenen, zweiten Mauer lebte er, zusammen mit jenen Gelehrten des Gymnasiums Vosagense, die bereits den Status von Domherren innehatten. Die große Hauptstraße mit dem Wassergraben in der Mitte verlief in Richtung Süden, zur Meurthe. Im Norden teilte sich die Pflasterung wie ein Fluss und gab einer weiteren Häusergruppe Raum. Im Westen, entlang der Stadtmauer, folgte ebenfalls wieder eine Häuserreihe an der anderen – jeweils quergestellt wie Riegel, die eine Flut aufhalten sollten. Ganz Saint-Dié war von Wasser umschlossen. Im Süden, bei der Meurthe, begann an der Brücke über den großen Fluss die alte Straße Richtung Colmar. Im Nordwesten führten ein Torbogen und eine Brücke hinaus auf die Wiesen und Felder. Er beschloss, diesen Weg zu nehmen. Das Wandern in der Natur besänftigte die innere Unruhe, die ihn
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