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Der Kartograph

Der Kartograph

Titel: Der Kartograph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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verzehrende Gefühl, das brannte, das weder Grenzen kannte noch akzeptierte, bei dem Himmel und Hölle eins waren, das hatte sie nie kennengelernt, noch nicht einmal, als sie Michelangelo begegnet war. Ihr Herz war immer ruhig geblieben. Und wenn sie sich diesen Mann so anschaute, dann war das vielleicht auch besser so. Er liebte verzweifelt, sehnsüchtig, war nicht mehr Herr seiner Gefühle und seines Körpers, sobald Marie Grüninger in seiner Nähe weilte. Diese Frau war eine solche Liebe nicht wert.
«Warum habt Ihr sie hergebracht?»
Sie schrak aus Ihren Gedanken hoch. «Sie bat mich darum. Wir haben uns bei meinem Empfang in Straßburg kennen gelernt. Ihr erinnert Euch? Ich sagte schon, sie ist eine ganz reizende Person – so liebenswürdig und, wie soll ich sagen, unbefangen. Dabei weiß sie doch genau, was sie will. Ihr solltet sie zunächst anhören, bevor Ihr mir Eure Antwort gebt.» Sie hob die linke Hand an die Schläfe. Verzeiht, Magister, mir ist nicht ganz wohl. Die Reise hat mich ermüdet, ich bin nicht die Gesündeste, Ihr versteht … Bitte entschuldigt mich. Marie wird Euch eine Nachricht zukommen lassen und Euch Ort und Tageszeit des Treffens nennen. Ich werde Euch wohl nicht begleiten können. Weist sie nicht zurück. Ich flehe Euch an. Es könnte Euer Glück zerstören. Hört zu, was sie Euch zu sagen hat.»
Er konnte in dieser Nacht nicht schlafen. So musste sich Jesus gefühlt haben. Wie hieß es noch in Matthäus 4,8–11:
    «Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.
Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.»
    Er fürchtete sich davor, nicht stark genug zu sein, um der Versuchung des Angebots der Medici zu widerstehen. Außerdem: Sein Engel war sehr irdisch. Irgendwann, bei Morgengrauen, sank er völlig ausgelaugt von den inneren Kämpfen auf sein Lager. Er ahnte nicht, dass noch eine weitere, ebenso große Versuchung auf ihn wartete. Erst beim Einschlafen fiel ihm auf, dass Contessina de’ Medici seine Frage nach Vespuccis Geheimnis nicht beantwortet hatte. Sie hatte allerdings auch nicht widersprochen. Aber er hatte ihr ja ebenfalls nicht gesagt, dass er längst nicht mehr an einer Seekarte arbeitete, sondern an einer Karte der Welt.
    Er traf Marie am nächsten Vormittag wie vereinbart jenseits des Stadttores an der Meurthe. Der Himmel hatte alle grauen Novemberschleier beiseite geschoben und den schönsten Sonnenschein aufgefahren. Es hätte auch ein sonniger Tag im Oktober sein können.
    Sie wartete schon auf ihn. Wieder traf ihn ihre Schönheit mitten ins Herz. Er kam sich so linkisch vor, so unbeholfen und hässlich. Sie strahlte ihn an. «Es ist schön, dass Ihr kommen konntet.» In diesem Moment meinte sie es genau so, wie sie es sagte. Sie wunderte sich selbst darüber, doch anscheinend bedeutete ihr dieser Mann mehr, als sie bisher geahnt hatte.
    Seine innere Unsicherheit wuchs noch. So kam der Satz barscher heraus, als er es beabsichtigt hatte. «Was wollt Ihr von mir? Warum seid Ihr hier?»
    Sie lächelte erneut. «So abweisend, mein Freund? Ich erinnere mich an Zeiten, da war das anders.» Sie senkte verschämt den Kopf, wurde sogar ein wenig rot.
    Was hatte diese Frau nur an sich, das ihn so magisch anzog? Nein, das durfte nicht sein. Sie gehörte einem anderen, hatte ein Kind mit ihm. Er versuchte, seine aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Es gelang ihm nur unzulänglich.
    «Verzeiht, ich wollte Euch nicht verletzen», begann er zögernd. «Ihr müsst wissen, was Ihr mir bedeutet. Doch ich darf nicht darüber sprechen, Ihr – es wäre beleidigend für Eure Ehre», brachte er schließlich heraus.
    «Meine Ehre!» Die Worte klangen traurig, fast bitter. «Was nützt einer Frau die Ehre, wenn sie zutiefst unglücklich ist, wenn jeder Tag ein erneutes Martyrium bedeutet!» In ihren grünen Augen glitzerten die Tränen. Eine lief ganz langsam über ihre Wangen. Sie wischte sie weg.
    «Marie, was sagt Ihr da?!»

    Er hätte sie am liebsten in seine Arme gerissen und nie mehr losgelassen.
    Sie senkte den Kopf. Dann schaute sie ihn an, ihre Blicke versanken ineinander. Sie löste sich als Erste aus dieser stummen Umarmung.

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