Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
ich stolperte durch das Stubentor hinaus und über die
Laufbrücke auf das grüne Glacis, das parkähnliche Feld, das die Befestigungen
umgibt, damit die Truppen Ihrer Majestät Invasoren mit ihren Waffen
abschlachten können. Die plötzliche Stille war mir unerträglich: Nur die Vögel
zwitscherten und zwei Pferde kauten auf ihrem Hafer herum.
Wieder innerhalb der Stadtmauern
wunderte ich mich über den Strom der Menschen: Hohe Beamte und Offiziere und
Hofräte in ihren Kutschen oder auf ihren großen Pferden, Schreiber und Pagen zu
Fuß. Kolonnen von Soldaten marschierten die Straßen auf und ab, die
Ausgemergelten und Abgekämpften waren überglücklich, lebend aus dem Krieg mit
Preußen zurückgekehrt zu sein, ihre robuste Ablösung jedoch sah dem
bevorstehenden kalten Winter niedergeschlagen entgegen. Ich stand auf einem
kleineren Platz, und mit einem einzigen Blick sah ich ein armes Kind, das um
Kupfermünzen bettelte, einen einbeinigen Graubart, der mühsam auf seiner Krücke
schwankte, einen so korpulenten Minister, dass sein Hengst sich unter ihm durchbog.
Eine Dame spähte über ihre Adlernase aus einer Kutsche. Ich stellte sehr bald
fest, dass niemand einen Blick an mich verschwendete, wenn ich nicht im Weg
stand – gewiss keine leichte Aufgabe –, niemand bemerkte meinen Schmutz oder
das engelsgleiche Gesicht, das sich darunter verbarg.
Ich blieb vor einem der prächtigen
Palais stehen und versuchte, die Geräusche in seinem Inneren zu erforschen. Ich
hörte, wie ein Mädchen leise sang, wie eine Französischstunde erteilt wurde,
wie sich Dienstmädchen und Köche und Portiers abmühten. Aber vor allem bemerkte
ich die erstaunliche Stille dieser beeindruckenden Gebäude. Ihre Türangeln
knirschten nicht. Die Räder der Kutschen, die aus ihren Toren rollten,
quietschten nicht. Die Füße der Dienstmädchen schienen den Boden nicht zu
berühren. Keine der Stimmen, die ich durch ein offenes Fenster hörte, erhob
sich schrill.
Ich wusste nichts von der Stadt, außer
dass sie auf allen Seiten von Befestigungen umgeben war, dass sie sanft abfiel
zum Gestank der Märkte und des Flusses und anstieg zu dem großartigsten aller
Paläste und dass in ihrer Mitte die riesige schwarze Kirche stand, der
Stephansdom, in dessen hohem Südturm die mächtigste aller Glocken hing, deren
Geläute der größte Klang war, den ich je gehört hatte, größer noch als das
Läuten der größten Glocke meiner Mutter.
Wenn ich eine offene Tür fand, ging
ich hindurch. Einmal wurde ich von einer faltigen Frau mit einem Hackbeil
hinausgejagt, aber meistens hatte ich mehr Glück. Ich schlich in Vorratskammern
und erbeutete einen Laib Brot, einen halben kalten Truthahn, zwei Würste, drei
gekochte Karotten und ein großes Stück Kuchen. Dann drang ich weiter vor, stieg
breite, geschwungene Treppen hinauf, kroch in leere Schlafzimmer mit üppigen
Matratzen, schlich immer weiter hinauf in winzige Dachkammern (in einer von
ihnen schlief schnarchend ein Student, der nach Schnaps roch). Ich steckte den
Kopf aus jedem Fenster, das ich in der Höhe finden konnte, und sah über die
Dächer, wobei ich halb hoffte, meine in einen Turm gesperrte Geliebte zu
erblicken, und halb, ein in den Wind gehauchtes Moses!
Moses! zu hören.
Bald aber wurde mir klar, dass meine
planlosen Anstrengungen keineswegs die Aufgabe erfüllen konnten, in einer
wimmelnden Metropole ein bestimmtes schönes Mädchen zu suchen. Als es Abend
wurde, begann ich Passanten zu fragen, wo ich wohl diesen Anton Riecher finden
könne.
Vermutlich hätte ich versuchen sollen,
mich zu waschen, bevor ich meine gezielte Suche begann, obwohl ein so
umsichtiges Vorgehen dem, was sich in dieser ersten wundersamen Nacht in Wien
zutrug, vielleicht abträglich gewesen wäre. Ich hatte immer noch die
schlammigen Streifen im Gesicht, lange schmutzige Fingernägel und Haare wie die
Tentakel einer Sumpfpflanze. Meine Hosen waren von den Knien bis zu den
Knöcheln zerfetzt, und eine Schuhsohle flatterte bei jedem Schritt wie die
heraushängende Zunge eines Jagdhunds. Daher begegnete man meinen
Nachforschungen nur mit angewiderten Blicken. Schließlich wählte ich einen
Pagen, der so in Eile schien, dass ich ihm den Weg mit meinen langen Armen versperren
musste. Er schlug mit seinem Handschuh nach mir, befürchtete aber
offensichtlich, dass dieser von meinem Gesicht schmutzig werden würde.
»Bitte, hilf mir, dann geh ich zur
Seite«, bat ich. Ich sagte ihm, wohin ich wollte. »Es ist eine
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